Housing First in Berlin: Wohnraum statt Gewerbe

Berliner Obdachlosenhilfe realisiert erstes Wohnprojekt für Obdachlose durch Gewerbeumnutzung

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 4 Min.
»Housing First«: Studien zeigen, dass sich die psychische und körperliche Gesundheit von Obdachlosen verbessert, wenn sie in ein stabiles Mietverhältnis kommen.
»Housing First«: Studien zeigen, dass sich die psychische und körperliche Gesundheit von Obdachlosen verbessert, wenn sie in ein stabiles Mietverhältnis kommen.

Wer obdachlos ist, braucht zuallererst Wohnraum. Erst danach können andere Probleme wie die Arbeitsplatzsuche angegangen werden. So lautet der sogenannte Housing-First-Ansatz, der in Berlin von Januar 2018 bis September 2021 durch zwei Sozialsenatspojekte erprobt wurde. Die Berliner Obdachlosenhilfe (BOH) ist nicht nur ein Verfechter des Ansatzes, sondern hat inzwischen auch eigens Stellen geschaffen, um das Prinzip in die Praxis umzusetzen. Nun realisiert die BOH ein Wohnprojekt für Obdachlose in Köpenick, in das Mieter*innen ab Oktober einziehen können. Das Besondere daran: Das Projekt wird in umgenutztem Gewerberaum verwirklicht.

»Mitten in der Pandemie habe ich als Sozialarbeiter angefangen«, erzählt Stefan »nd«. Stefan ist mit Maya eine*r der zwei Sozialarbeiter*innen, die seit 2020 eine Stelle in der BOH zur Vermittlung von Wohnraum an Obdachlose besetzen. Stefan und Maya berichten über die Pandemie als eine Zeit, in der Menschen durch wegbrechende Hilfesysteme der Straße überlassen wurden. Auch unter besonders Schutzbedürftigen beobachte Stefan seither eine »größere Polarisierung und das Abdriften ins Extreme«. Der Drogenmarkt habe sich seither verändert. Stefan schätzt, dass »verdrecktere« Drogen im Umlauf seien und dies vermehrt psychischen Folgen für seine Klient*innen habe.

Insgesamt 17 Wohnungen konnten Stefan und Maya in den vergangenen Jahren vermitteln, darunter an Alleinerziehende und Familien. Eine ihrer vermittelten Personen sei leider verstorben, eine andere konnte die Wohnung nicht halten. Seit 2013 existiert die BOH als selbstorganisierter, ausschließlich durch Spenden finanzierter Verein und ist auf die Hilfe von Ehrenamtlichen angewiesen. »Unser Ziel ist es, obdachlosen Menschen Grundbedürfnisse zu erfüllen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen mehr zu bieten als das pure Überleben«, erklärt Stefan. Unabhängigkeit sei der BOH wichtig. Weder Großspender*innen noch »White Washing« – also inszenierte Wohltätigkeit – akzeptiere das basisdemokratische Projekt.

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»Es gab erstaunlich viele Herausforderungen«, berichtet Anni über den Aufbau der Unterkunft in Köpenick. Sie ist seit drei Jahren Teil der BOH und Architektin. Als Projektkoordinatorin hat sie sich in den vergangenen eineinhalb Jahren durch die bürokratischen Anforderungen gearbeitet, um aus einer 200 Quadratmeter großen Gewerbefläche Wohnraum in einer sogenannten Clusterwohnung zu machen.

Clusterwohnung bedeutet, dass jede*r Bewohner*in ein 23 bis 46 Quadratmeter großer privater Rückzugsraum mit ein bis zwei Zimmern inklusive Bad zur Verfügung steht und es zusätzlich einen Gemeinschaftsbereich mit Stauraum und großer Küche gibt. »Wichtig für uns ist, dass die Menschen ihre Mitbewohner*innen als Ressource wahrnehmen und sich als Gemeinschaft verstehen«, sagt Stefan.

Ein Immobilienbesitzer, der unbekannt bleiben möchte, hat die Gewerberäume für das Wohnprojekt bereitgestellt und den Umbau finanziert. Die BOH fand zudem einen Kooperationspartner, der als Hausverwaltung fungieren kann. Somit sind alle Menschen, die in das Wohnprojekt ziehen werden, eigenständige Mieter*innen mit einer Vertragslaufzeit von zwei Jahren. Es sei wichtig, den Klient*innen zu vermitteln, »dass sie alt genug sind und einen Mietvertrag halten können«, sagt Stefan. Für das Köpenicker Wohnprojekt wolle die BOH bewusst Menschen aus der Obdachlosigkeit holen, die »aus dem Raster fallen«, wie beispielsweise illegalisierte EU-Ausländer*innen. Zudem entstehen zwei barrierefreie Räume.

Clusterwohnungen sind laut Anni immer mehr im Fokus. »Sie werden aber leider noch zu selten umgesetzt.« Die Architektin ist der Meinung, dass Leerstandsnutzung Obdachlosigkeit bekämpfen kann. Aber auch die Gewerbeumnutzung: Denn seit Corona stünden durch den Umzug ins Homeoffice immer mehr Flächen frei. Stefan hofft, dass durch die Housing-First-Senatsprojekte mehr »Bewegung in die kommunalen Wohnungsunternehmen« kommt.

Um Auskunft über die Gewerbeumnutzung für Geflüchtete und Wohnungslose zu bekommen, hat der stadtpolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordenetenhaus, Niklas Schenker, zusammen mit seiner Genossin Elif Eralp eine schriftliche Anfrage an die Sozialsenatsverwaltung gestellt. »Der Senat offenbart mit seiner Antwort, dass das Thema bisher noch eine untergeordnete Rolle spielt«, sagt er »nd«. Schenker spricht von 1,5 Millionen Quadratmetern Büroflächen, die leer stünden und die statt Bauens auf Grünflächen oder »Wohnen zweiter Klasse« für Geflüchtete oder Wohnungslose genutzt werden könnten. Ein erster Schritt des Senats könnte laut Schenker die Einführung eines entsprechenden Förderprogramms sein.

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