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Europawahl im Baltikum: Wahl der Köpfe

Bei der Europawahl im Baltikum geht es mehr um die Personen als um die Parteien

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
In Lettland dürfte die spannendste Europawahl der baltischen Staaten stattfinden.
In Lettland dürfte die spannendste Europawahl der baltischen Staaten stattfinden.

Mitte April rührte Estlands älteste Zeitung »Postimees« die Werbetrommel für die Europawahl im Juni. Die sieben Abgeordneten, die die kleinste und nördlichste der drei baltischen Republiken künftig vertreten, hätten zwar nicht viel Gewicht, dafür das Europaparlament umso mehr, heißt es in einer Kolumne. Deshalb forderte das Blatt: »Wir sollten die Besten nach Brüssel schicken«, also diejenigen, die sich wirklich für die estnischen Interessen einsetzen.

Geht es nach Reim Toomla, wird es bei der estnischen Europawahl keine großen Überraschungen geben. Bei lediglich sieben Abgeordneten spielen die Kandidaten die wichtigste Rolle, meint der Politikwissenschaftler der Universität Tartu. Die Sozialdemokraten der SDE könnte zwei Sitze erringen. Gleiches gilt für die regierende Estnische Reformpartei (RE). Allerdings dürfte die RE aufgrund des Konflikts zwischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas und dem Europaabgeordneten Andrus Ansip an Zuspruch verlieren, schreibt Toomla in einer Einschätzung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERR.

Toomla glaubt, dass die aktuelle EU-Abgeordnete Yana Toom ihren Sitz behalten wird. Zwar hat ihre Mitte-links-Zentrumspartei kaum Geld für den Wahlkampf, dafür kann sich Toom auf die russischsprachigen Menschen in Estland stützen. Auch Jaak Madison von der rechtspopulistischen Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE) und Riho Terras von der konservativen Vaterlandspartei (Isamaa), dürften wieder EU-Politik machen. Insbesondere der Ex-General Terras verfügt mit Blick auf den Krieg in der Ukraine über wichtige Erfahrungen.

Europawahl 2024

Im Juni wird in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union über ein neues EU-Parlament abgestimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass rechte Parteien an Einfluss gewinnen könnten. Was ist eine linke Antwort darauf? Und wie steht es um die Klimapolitik der EU? Welche Entwicklungen gibt es in Hinblick auf Sozialpolitik und was ist im Bereich der europäischen Asyl- und Migrationpolitik zu erwarten? Die anstehende Europawahl wird richtungsweisend. Auf unserer Themenseite fassen wir die Entwicklungen zusammen: dasnd.de/europawahl

Lettlands Kandidaten haben eine Korruptionsgeschichte

Deutlich aufregender ist der Wahlkampf in Lettland, der politischen Diva des Baltikums. Dort hatte die Wahlleitung im vergangenen Jahr entschieden, dass Wahlwerbung nur noch auf Lettisch stattfinden darf. Ein Schlag gegen die große russischsprachige Minderheit und »absurd«, findet die sozialdemokratische Partei Harmonie, die dagegen aktuell vor dem Verfassungsgericht klagt. Eben jene Harmonie war vor anderthalb Jahren aus dem Parlament geflogen, weil sie als russlandfreundlich gilt. In Europa hat sie hingegen gute Chancen, weiter zwei der neun lettischen Abgeordneten zu stellen.

Bei einer Umfrage von Ende März lag Harmonie auf dem zweiten Platz hinter der rechtspopulistischen Nationalen Vereinigung, angeführt von Roberts Zīle, seit 2004 im Europaparlament und seit Januar 2022 einer der 14 Vizepräsidenten des Parlaments. Harmonie geht mit dem ehemaligen Rigaer Bürgermeister Nils Ušakovs in Rennen. 2019 musste der Russischsprachige seinen Posten nach einem Korruptionsskandal räumen und ging nach Brüssel. Erst vor Kurzem versuchte Lettland, Ušakovs Immunität aufzuheben, scheiterte aber. Gleiches gilt für seinen ehemaligen Vize Andris Ameriks, den anderen aussichtsreichen Kandidaten auf eine erneute Legislaturperiode in Europa.

Dass Ušakovs und Ameriks trotz des Niedergangs ihrer Partei wohl wieder nach Straßburg gehen, zeigt, dass auch den Letten Personen wichtiger als Parteien sind. Nicht zuletzt muss das auch die Regierungspartei Neue Einigkeit feststellen. Dort musste Ex-Ministerpräsident Krišjānis Kariņš sein Amt als Außenminister niederlegen, weil er als Regierungschef lieber Charter als Linie flog und so Kosten in Millionenhöhe verursachte. Dass Kariņš zwischenzeitlich mit einem Wechsel in die europäische Politik liebäugelte, nahmen ihm die Letten übel. Die Konsequenz: Die Konservativen um EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis sind in der Wählergunst auf den dritten Platz abgerutscht. Insgesamt könnten acht Parteien die Fünf-Prozent-Hürde überspringen.

Europa to go

Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

In Litauen ist Europa nur die dritte Wahl

Ohne große Aufreger dürfte dagegen die Abstimmung in Litauen vonstatten gehen. Selbst Vladas Gaidys, Leiter des Meinungsforschungsinstituts Vilmorus, nennt die Europawahl »irrational und unsichtbar«. Die Litauer müssen in diesem Jahr gleich dreimal an die Urne, neben den elf Europaabgeordneten müssen sie noch den Präsidenten und das Parlament bestimmen. Die Aufmerksamkeit der Menschen gelte der Präsidentschaftswahl am 12. Mai, meint Gaidys, auch die Parlamentswahl im Oktober steht höher in der Gunst. Dort kenne man die Abgeordneten. Das Europaparlament hingegen ist etwas sehr Entferntes, für das man schon Spezialist sein müsse, um zu verstehen, was dort vor sich geht, sagte Gaidys »Voxeurop«. Eine spezifisch europäische Wahlkampagne in Litauen zu finden, dürfte eine Herausforderung sein, so Gaidys.

Dennoch könnte es EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius wieder ins beschauliche Vilnius ziehen. Sollte es für die Mitte-links-Partei Im Namen Litauens im Juni nicht reichen, will er ins heimische Parlament. In einem Interview mit dem Portal »Delfi« ließ Sinkevičius durchblicken, dass ihm die nationale Politik sogar lieber wäre. Es sei nur logisch, dass er zur Europawahl antrete, doch »die Priorität ist klar – eine Rückkehr in die nationale Politik«.

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