Amnesty-Bericht: Doppelstandards bei Menschenrechten

Menschenrechtsorganisation dokumentiert Verbrechen an Zivilisten, Überwachung, Verfolgung und Grundrechteeinschränkungen weltweit

Protest der Letzten Generation im bayerischen Regensburg: Auch die Fälle von Präventivhaft und Gewalt gegen Klimaaktivisten der Gruppe und ihre Kriminalisierung werden im Amnesty-Bericht scharf kritisiert.
Protest der Letzten Generation im bayerischen Regensburg: Auch die Fälle von Präventivhaft und Gewalt gegen Klimaaktivisten der Gruppe und ihre Kriminalisierung werden im Amnesty-Bericht scharf kritisiert.

Das Bild, das Julia Duchrow von der Weltlage zeichnet, ist düster. International erstarkten »nationalistische, rassistische und frauenfeindliche Kräfte«, sagte die Generalsekretärin von Amnesty International (AI) in Deutschland am Dienstag bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023 der Menschenrechtsorganisation. Der Report enthält Einzelberichte zur Lage in 155 Ländern.

Auch die Lage in Deutschland ist laut AI alles andere als rosig. So ist die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete im vergangenen Jahr um mehr als zwei Drittel gestiegen. Auch die Bundesregierung trage »zur Erosion der internationalen Ordnung bei«. Sie schweige »zu den Kriegsverbrechen der israelischen Armee und verspielt damit ihre Glaubwürdigkeit«, monierte die AI-Chefin und fügte hinzu: »Doppelstandards vertragen sich nicht mit der menschenrechtsbasierten Außenpolitik, die Außenministerin Annalena Baerbock angekündigt hat.«

Auf der Haben-Seite vermerkt Amnesty, dass der Bundestag vor einigen Wochen die Einrichtung der Stelle eines unabhängigen Polizeibeauftragten beschlossen hat. »Dies schafft mehr Transparenz und stärkt die rechtsstaatliche Kontrolle der Polizei«, so Duchrow. Doch weiterhin würden staatliche Institutionen »strukturellen Rassismus nicht ausreichend« anerkennen und zu wenig tun, um Menschen »vor Hasskriminalität zu schützen«.

Auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit stünden in der Bundesrepublik unter Druck. So seien viele Demonstrationen verboten worden, auf denen Menschen Solidarität Palästinenser*innen zeigen wollten. »Schweres Geschütz« sei gegen Klimaaktivisten der Gruppe Letzte Generation aufgefahren worden: »von Hausdurchsuchungen und mehrwöchigem Präventivgewahrsam bis zu Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung«, so Duchrow. Das sei »ein Angriff auf das Recht auf friedlichen Protest und die Zivilgesellschaft«.

Mit Blick auf die deutsche Fluchtpolitik moniert Amnesty, bis heute habe die Ampel die im Koalitionsvertrag angekündigten Erleichterungen für den Familiennachzug nicht umgesetzt. Stattdessen habe sie »erhebliche Verschärfungen im Bereich von Abschiebungen beschlosse

Im Bericht wird konstatiert, dass es in vielen Ländern Rückschläge im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit gibt. Dies sei einer der großen globalen Trends. Ein Beispiel dafür sind die Entwicklungen in den USA, wo Schwangerschaftsabbrüche seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes von 2022 in 15 Bundesstaaten «gänzlich verboten oder weitgehend eingeschränkt». Weiter wird im Bericht auf die verschlechterte Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan und im Iran verwiesen.

Ein weiterer Trend: Aktivist*innen, die sich für die Rechte anderer einsetzen, sind weltweit Angriffen ausgesetzt, weil Regierungen ihren Machtanspruch gewaltsam durchzusetzen versuchen oder Aktivist*innen nicht ausreichend gegen Übergriffe schützen.

Der dritte und besonders beunruhigende Trend: eine wachsende Zahl bewaffneter Konflikte, in denen Zivilisten schutzlos Gewalt ausgesetzt sind. Derjenige im Sudan wird im Bericht als «weltweit größte humanitäre Krise» bezeichnet. Zehn Millionen Menschen mussten fliehen, 25 Millionen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, vier Millionen Kindern droht der Hungertod. «Menschen werden bei der verzweifelten Suche nach Nahrung, Wasser und Medikamenten getötet. Frauen und Mädchen wurden Opfer sexualisierter Gewalt», schilderte Duchrow die Situation.

Zum «Konflikt zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen» in Gaza sagte sie: «Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen haben mit ihrem brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 Kriegsverbrechen begangen. Das Leid der Opfer ist durch nichts zu relativieren. Doch der Militäreinsatz der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen hat jedes Maß verloren.» Er gehe mit «zahlreichen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht einher». Am 26. Januar habe der Internationale Gerichtshof festgestellt, «dass für die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza eine reale und unmittelbare Gefahr des Völkermords besteht», so Duchrow.

In den letzten Wochen geriet Amnesty gerade in Deutschland seinerseits ins Visier jener, die das Vorgehen Israels als alternativlos und gerechtfertigt darstellen. Wiederholt wurde der Organisation wegen der Kritik etwa am Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin am vorletzten Wochenende «Israelhass» oder Antisemitismus vorgeworfen.

Duchrow monierte am Dienstag ihrerseits, die Bundesregierung weigere sich, «die Kriegsverbrechen der israelischen Armee beim Namen zu nennen». Stattdessen habe sie im vergangenen Jahr vermehrt Waffen an Israel geliefert. Im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof habe sich Deutschland «aktiv an die Seite Israels» gestellt, statt «alles zu tun, um die Gefahr eines Völkermords zu bannen».

Künftig müsse sich die Ampel-Koalition vehement sowohl für einen Waffenstillstand als auch für die Freilassung der Geiseln im Gaza-Konflikt einsetzen. Sie dürfe keine Waffen an Israel und andere Konfliktländer liefern, «wenn die Gefahr besteht, dass damit Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen begangen werden», forderte Duchrow. Rüstungsexporte «zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Angriffen» nimmt Amnesty davon aus.

Der mangelnde Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten setze sich im Umgang mit Geflüchteten durch die EU fort. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) werde «die Rechtlosigkeit an Europas Grenzen zur Norm machen», prognostizierte Duchrow. «Schutzsuchende könnten künftig ohne Einzelfallprüfung inhaftiert werden, darunter auch Kinder und Folteropfer. Die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen wird eingeschränkt, der Zugang zu Anwält*innen weiter erschwert.» Die Bundesregierung habe sich «bei keinem ihrer Verhandlungspunkte durchgesetzt», kritisierte sie.

Der vierte globale Trend, den AI wahrnimmt, ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und modernen Überwachungstechnologien gegen Menschenrechtsaktivist*innen. Amnesty-Experten hätten 2023 den Einsatz der Überwachungssoftware «Pegasus» gegen Medien und Zivilgesellschaft in Armenien, Indien, Serbien und der Dominikanischen Republik aufgedeckt, berichtete Lena Rohrbach, Expertin für Menschenrechte im Digitalen Zeitalter bei AI Deutschland. Weiter habe das Fachleuteteam enthüllt, wie auch die neue, von einem europäischen Konsortium hergestellte Spionagesoftware «Predator» unkontrolliert gehandelt und eingesetzt werde.

In Serbien wiederum habe die Einführung eines automatisierten Systems dazu geführt, dass Tausende Menschen zu Unrecht den Zugang zur Sozialhilfe verloren.

Amnesty fordert ein Verbot von «Pegasus» und «Predator» sowie von tödlichen autonomen Waffensystemen. An der 2023 verhandelten Europäischen KI-Verordnung kritisiert die Organisation, dass sie ein «Parallelsystem für Sicherheits- und Migrationsbehörden» schaffe. KI, die für andere Anwendungen verboten sei, dürften diese benutzen. Für den Einsatz von KI zu Zwecken der nationalen Sicherheit gelte die EU-Verordnung überhaupt nicht.

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