Grundmandatsklausel: Verfassungskonform oder nicht?

Zwei Juristen, drei Meinungen: Das gilt auch mit Blick auf die Vereinbarkeit der von der Ampel beschlossenen Wahlrechtsreform mit dem Grundgesetz

  • Ulrich Steinkohl
  • Lesedauer: 3 Min.
Gregor Gysi und Martin Schirdewan vor Beginn der Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition.
Gregor Gysi und Martin Schirdewan vor Beginn der Verhandlung über die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition.

Zum Bundestagswahlrecht hat das Bundesverfassungsgericht erst Ende November das letzte Mal ein Urteil dazu gefällt. Nun muss es sich schon wieder damit befassen. Damals stand die zu diesem Zeitpunkt bereits überholte Wahlrechtsreform der großen Koalition aus dem Jahr 2020 auf dem Prüfstand. Die Einwände dagegen: Sie habe schlicht nicht das bewirkt, was sie hätte bewirken sollen – eine Verkleinerung des Bundestags. Von vornherein von Kritikern als »Reförmchen« verspottet, wurde der stetige Anstieg der Zahl der Abeordneten durch sie lediglich gebremst. Der amtierende 20. Bundestag hat 736 Mitglieder und ist damit das größte frei gewählte Parlament weltweit. Dem vorigen hatten 709 Mandatsträger angehört.

Was hat die jüngste Reform bewirkt?

Die jetzt verhandelten Klagen von Linkspartei, CDU/CSU sowie mehr als 4000 Einzelklägern richten sich gegen die am 17. März 2023 mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossene Novelle des Bundeswahlgesetzes, die im Juni in Kraft getreten ist. Die Zahl der Sitze wird damit bei 630 gedeckelt.

Gewählt würde nach dem neuen Gesetz im kommenden Jahr, sollte Karlsruhe die Klagen abweisen, weiter mit Erst- und Zweitstimme. Es gibt aber keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Überhangmandate entstanden bisher, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate im Bundestag gewann als nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Überhangmandate durfte sie behalten. Die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate, was das stetige Anwachsen der Abgeordnetenzahl bewirkte. Künftig soll über die Zahl der Sitze einer Partei im Parlament allein ihr Zweitstimmenergebnis entscheiden.

Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen bisher Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate holten.

Was stört die Kläger?

Der Wegfall der Überhangsmandate hätte vor allem für die CSU gravierende Folgen. Der Grund: Bei der Bundestagswahl 2021 gewann sie 45 Direktmandate, kam aber nur auf ein bundesweites Zweitstimmenergebnis von 5,2 Prozent. Sie erhielt so elf Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr bekäme. Weitere zwölf Überhangmandate holte die CDU in Baden-Württemberg. Zusammen waren das 23 von insgesamt 34 Überhangmandaten, die wiederum 104 Ausgleichsmandate zur Folge hatten. Fiele die CSU nun bundesweit unter die Fünf-Prozent-Hürde, käme sie wegen der gestrichenen Grundmandatsklausel gleich gar nicht mehr in den Bundestag, selbst, wenn sie wie bisher die meisten Wahlkreise in Bayern direkt gewänne.

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Existenziell für Die Linke

Diese Änderung betrifft auch Die Linke existenziell. Bei der Bundestagswahl war 2021 war sie auf 4,9 Prozent der Stimmen gekommen und konnte nur dank dreier gewonnener Direktmandate erneut als Fraktion ins Parlament einziehen. Bei der Wahl 1994 profitierte bereits die Linke-Vorgängerpartei PDS von der Grundmandatsklausel. Sie holte damals nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen. Dank vier Direktmandaten erhielt sie dennoch 30 Bundestagssitze.

In Karlsruhe wird über zwei Normenkontrollverfahren (195 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, bayerische Staatsregierung), drei Organstreitverfahren (CSU, Linke, damalige Linksfraktion) und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren (mehr als 4000 Privatpersonen, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen) verhandelt. Bei einem Normenkontrollverfahren wird geprüft, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Organstreitverfahren ist eine Auseinandersetzung zwischen obersten Bundesorganen oder diesen gleichgestellten Beteiligten über Rechte und Pflichten aus dem Grundgesetz. Antragsteller wie Beschwerdeführer sehen sich insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz. So sind durch den Wegfall der Grundmandatsklausel unabhängige Einzelkandidaten gegenüber Personen im Vorteil, die für eine Partei antreten, sofern diese unter die Fünf-Prozent-Hürde fällt. dpa/nd

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