Eigene hebräische Mörder

Lavie Tidhar gibt mit seinem Roman »Maror« Einblick in die israelische Geschichte – als Schauplatz organisierter Kriminalität

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Trügerischer Schein? Strandidylle mit Sonnenuntergang in Tel Aviv
Trügerischer Schein? Strandidylle mit Sonnenuntergang in Tel Aviv

Lässt sich die Geschichte eines Landes anhand seiner organisierten Kriminalität erzählen? Oder bedient ein solcher Fokus nur Vorurteile? Colson Whitehead hat das in seinen letzten beiden Romanen getan, um der Geschichte des New Yorker Stadtteils Harlem zu Leibe zu rücken. Der 48-jährige, in London lebende israelische Schriftsteller Lavie Tidhar schreibt in seinem außergewöhnlichen, über 600 Seiten dicken Kriminalroman »Maror« eine spotlightartige Geschichte der organisierten Kriminalität seines Heimatlandes.

Der Titel ist dabei Programm, bezeichnet Maror doch die bitteren Kräuter, die zum Seder an Pessach auf dem Tisch liegen und an das schmerzvolle Exil in Ägypten erinnern sollen. Und bitter ist diese mitunter sehr gewaltvolle Geschichte allemal. Denn Lavie Tidhar legt den Finger in die Wunde, schreibt über antiarabischen Rassismus, die Brutalität rechter Polizisten, aber auch über antisemitische Gewalt, die etwa Drogenhändler Benny als Gefangener in einem Kellerloch im Libanon erleiden muss, und wie all das strukturell Teil der Geschichte Israels ist.

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»Maror ist nicht so sehr ein Krimi als vielmehr ein Roman über Verbrechen, eine Art, die Geschichte und die Kultur Israels durch die Linse des normalisierten Verbrechens und der systemischen Korruption zu erzählen«, so Lavie Tidhar in einem Interview mit dem Magazin »Hadassah«. Über vier Jahrzehnte hinweg rollt Tidhar, der sonst preisegekrönte Science-Fiction und Fantasy schreibt, die Geschichte von Drogen- und Waffenhandel, Immobilienspekulation, von korrupten Polizisten und Politikern auf.

Wobei »Maror« kein Schwarzbuch der israelischen Geschichte ist, sondern es wird eher wie bei Charles Dickens von den sonst kaum sichtbaren Rändern der Gesellschaft erzählt – ganz im Sinn eines legendären Zitats von Ben Gurion, dem ersten Premierminister des Landes, das in abgewandelter Form auch immer wieder im Buch vorkommt. »Erst wenn wir unseren eigenen hebräischen Dieb, unsere eigene hebräische Hure und unseren eigenen hebräischen Mörder haben, haben wir wahrhaftig einen Staat.«

Das knappe Dutzend miteinander verflochtener Episoden dieses wild durch die Zeit springenden Romans spielt vor dem Hintergrund einschneidender historischer Ereignisse. Das reicht vom Libanonkrieg über die Ermordung Yitzhak Rabins, die Iran-Kontra-Affäre bis hin zum dramatischen Unglück während eines Popfestivals in den 90ern in der israelischen Wüste, bei dem mehrere junge Menschen zu Tode kamen, ganz ähnlich wie beim Love-Parade-Unglück 2010 in Duisburg.

Verbindendes Element dieser Geschichten ist der Polizist Cohen, der mit diversen Mafiosis auf Du und Du steht, in illegalen Geschäften mitmischt, dabei über jede Menge Leichen geht und reichlich Bibelzitate von sich gibt. »Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden«, erklärt er einem Soldaten während des Libanonkriegs, den er für seine krummen Geschäfte rekrutiert.

Um Cohen herum gruppiert Tidhar eine ganze Reihe von Akteuren, die im Lauf der Jahre über Generationen hinweg von Tel Aviv bis in die kalifornische Diaspora ihre illegalen Geschäfte betreiben und auch gegeneinander kämpfen. Immer wieder tauchen dabei reale Personen aus Politik und Zeitgeschichte auf, die hierzulande zumeist weniger bekannt sind. Wobei auch das linksradikale Urgestein Uri Avnery einen Gastauftritt in »Maror« hat und in seiner Funktion als Chefredakteur des Investigativ-Magazins »haOlam haZeh« im Hinterzimmer den skandalträchtigen Artikel einer Autorin kassiert, die in den 70ern illegale Immobiliendeals hochrangiger Militärs und Politiker im Westjordanland zu Beginn der Begin-Ära aufdeckt. Der politische Druck auf ihn ist zu groß.

Wo hier die Fiktion beginnt, und die Geschichte aufhört, bleibt unklar. Tidhar erzählt das alles aber ungemein spannend, ohne platte Feindbilder zu kreieren. Dabei geht es ebenso um das Nachtleben im Tel Aviv der 70er, um romantische Begegnungen, jede Menge Drogenexzesse, um Popkonzerte in der Wüste, verschiedene Generationen mafiöser Strukturen, ums Leben im Kibbuz, wo Tidhar selbst aufgewachsen ist, und um die Brutalität, mit der immer wieder Sehnsüchte zurechtgestutzt werden.

Ein versöhnliches Ende findet das Buch nicht wirklich. Das gibt es aber in Bezug auf den Nahost-Konflikt zumindest in einem anderen Roman Lavie Tidhars, der ebenfalls ins Deutsche übersetzt wurde und absolut lesenswert ist. Denn in seinem SF-Roman »Central Station«, der von einem interplanetaren Raumhafen im Tel Aviv einer fernen Zukunft erzählt, ist der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis nicht mehr als eine ferne Erinnerung.

Lavie Tidhar: Maror. A.d. Engl. v. Conny Lösch. Suhrkamp, 639 S., geb., 22 €.

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