Das Bettlaken als Buch

Museyroom (Teil 18): Das Kleine Tagebuchmuseum in Pieve Santo Stefano, Toskana

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.
Auf einem Bettlaken verfasste die Bäuerin Clelia Marchi einen Bericht über ihr einstiges Leben mit ihrem bereits verstorbenen Mann.
Auf einem Bettlaken verfasste die Bäuerin Clelia Marchi einen Bericht über ihr einstiges Leben mit ihrem bereits verstorbenen Mann.

Pieve Santo Stefano ist ein toskanischer Ort an der Tiberschleife nahe der Grenze zu Umbrien und der Emilia Romagna. Hier wohnen knapp 3000 Menschen. Im Zweiten Weltkrieg fanden dort schwere Gefechte statt, da Pieve nur unweit der »Linea Gotica« liegt, der »Gotenstellung«, einer Verteidigungslinie, die die Deutschen gegen die anrückenden Alliierten errichtet hatten. Durch diese wurde die italienische Halbinsel auf der Höhe Massa-Carrara und Pesaro abgeschnitten. Deutsche Wehrmachtstruppen standen nördlich dieser Linie, während vom Süden britische und US-amerikanische Truppen die Stellungen zu durchbrechen versuchten.

Im August 1944 wurden sämtliche Bewohner Pieve Santo Stefanos von deutschen Soldaten aus dem Ort vertrieben, die Häuser während des Rückzugs von der Soldateska vermint und gesprengt. In dem Buch »Pieve 1944« wird dem Treiben der deutschen Wehrmacht nachgegangen (Alsaba Grafiche, 2008). Der zu 99 Prozent zerstörte Ort wurde zwar schnell wieder aufgebaut, der alte Stadtkern war jedoch ausgelöscht worden. Erhalten blieben nur die Kirchen sowie das mit Familienwappen verzierte alte Rathaus, das mit seiner L-förmigen Struktur an ein aufgeschlagenes Buch erinnert.

Museyroom

Im Museum liegt die Kraft. Glauben Sie nicht? Gehen Sie doch mal rein! Jeden Monat stellen wir eins vor, in Text und Bild. So wie James Joyce es in »Finnegans Wake« geschrieben hat: »This is the way to the museyroom.«

Seit dem Jahr 1984 hängt an allen vier Zufahrtsstraßen von Pieve Santo Stefano gleich unterhalb des offiziellen Ortseingangsschildes ein großes gelbes Schild: »Città del diario« (Stadt des Tagebuchs). Auf Initiative des Journalisten und Schriftstellers Saverio Tutino wurde 1984 in Pieve ein öffentliches Archiv ins Leben gerufen, das L’Archivio Diaristico Nazionale. Hier sind autobiografische Schriften von ganz »normalen« Menschen gesammelt, in denen sich das alltägliche Leben und zugleich die Geschichte Italiens in verschiedensten Formen spiegeln. Es sind Tagebücher, Briefwechsel, persönliche Lebenserinnerungen. Wollte die nazistische Soldateska den Ort Pieve Santo Stefano auslöschen, so ist dieser heute ein Ort des historischen Gedächtnisses.

Nur wenige Exponate der Sammlung, die mehr als 8000 Erinnerungen umfasst, werden in vier kleinen Räumen des Rathauses präsentiert, im »Piccolo Museo del Diario«, dem Kleinen Tagebuchmuseum. Dieses wurde vom Mailänder Design-Studio dotdotdot zu einem multimedialen Parcours mit Schubladenregalen gestaltet. In diesen werden nicht nur autobiografische Schriften aufbewahrt, einige Schubladen in Raum 1 enthalten einen Bildschirm, auf dem Exzerpte aus Tagebüchern präsentiert werden.

In Raum 2 ist ein großer Teil dem Gründer des Archivs, Saverio Tutino, gewidmet. Und auch hier sind in einem »Alphabet der Erinnerung« Auszüge aus den archivierten Lebenserinnerungen zu hören. In Raum 3, »Rabitos Raum« genannt, wird an Vinzenzo Rabito (1899–1981) erinnert, geboren in Chiarmonte Qulfe, Sizilien. Rabito beschrieb auf 1027 Schreibmaschinenseiten sein Leben, nachdem er sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Der Sizilianer mochte besonders das Semikolon, das er auf seiner »Olivetti Lettera 22« immer wieder als Trennungszeichen verwendete. Rabito erzählt von einem »geschundenen, beschwerlichen, sehr zu verachtenden Leben«. Er beschreibt die Armut in Süditalien, seine Zeit in Libyen und Abessinien als Soldat, die Landung der Amerikaner in Italien, den Schwarzmarkt, die Machenschaften von Polizei und Mafia, die Geburt seiner Kinder sowie die Kunst, sich durchs Leben zu wurschteln.

In Raum 4 ist ein Bettlaken zu sehen, das quasi zum Emblem des Museums wurde. Im Winter 1986 war eine ältere Bäuerin, Clelia Marchi (1912–2006), in Pieve Santo Stefano erschienen, unter ihrem Arm ein Bettlaken. Ihren Heimatort Poggio Rusco bei Mantua hatte Marchi bis dahin kaum verlassen. Das Bettlaken hatte sie ihrem 1972 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Mann gewidmet und darauf in langen Zeilen, nummeriert von 1 bis 184 mit schwarzen Filzstiften ihr Leben aufgezeichnet. Sie gab ihm den Titel »Gnanca na busia« – Bettlakenbuch. Oben an den Seiten ist das Laken mit Fotos von ihrem Mann und ihr selbst, mittig mit einem Jesusbild verziert.

Nach dem Tod ihres Mannes hatte Clelia Marchi begonnen, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Als ihr das Papier ausging, erinnerte sie sich an einen Satz ihrer Grundschullehrerin, die den Kindern erzählt hatte, dass die Etrusker ihre Mumien in Bettlaken zu wickeln pflegten. »Mit meinem Ehemann kann ich das Bettlaken nicht mehr nutzen, und so beschloss ich, es zum Schreiben zu benutzen.« Der Bettlakentext über das einfache Leben der Landbevölkerung bei Mantua erschien in einem Buch auch in deutscher Sprache: »Keine einzige Lüge: Ein bewegendes Zeitzeugnis einer einfachen italienischen Bäuerin« (Libroletto, 2013). Eine neue italienische Ausgabe mit dem Titel »Gnanca na busia« veröffentlichte 2024 der Verlag ilSaggiatore.

Dieses Buch ist eine der mittlerweile über 200 Veröffentlichungen des L’Archivio Diaristico Nazionale. 1998 erschien die erste Ausgabe der hauseigenen Zeitschrift »Prima Persona – Percorsi Autobiografici«. Die Zeitschrift widmet sich der allgemeinen Diskussion des Themas Autobiografie und veröffentlicht Auszüge aus den Texten der Sammlung des Archivs. Zentren und Archive der autobiografischen Erinnerungen sind nach dem Vorbild Pieve Santo Stefanos entstanden in Ambérieu bei Lyon, in Emmendingen bei Freiburg, in La Roca del Vallès in Katalonien und im finnischen Kärsämäki.

www.piccolomuseodeldiario.it

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