Rashid Khalidi: »Hier hilft ein Blick in die Geschichte«

Der Historiker Rashid Khalidi über die Hamas, ihre Ziele und Formen der Gewalt

  • Interview: Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 9 Min.
Jahja Sinwar, Chef der Hamas im Gazastreifen. Zuletzt gab es Spekulationen, ob er noch am Leben ist.
Jahja Sinwar, Chef der Hamas im Gazastreifen. Zuletzt gab es Spekulationen, ob er noch am Leben ist.

Die Hamas hat am 7. Oktober ein Massaker an Israelis angerichtet. Was wollte sie damit erreichen?

Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Einige der Ziele wurden von Mohammad Deif und anderen Hamas-Führern genannt. Eines davon war, die Dynamik zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel in der arabischen Welt zu stoppen. Ein anderes, die Menschen davon abzuhalten, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, wie zum Beispiel die Abriegelung des Gazastreifens, zu ignorieren. Ein weiteres Ziel für Hamas war sicher, die führende Position in der palästinensischen Politik einzunehmen. Ob es darüber hinausgehende Ziele gab, kann ich nicht sagen.

Mit der Normalisierung spielen Sie wohl auch auf die Abraham-Abkommen an. Glauben Sie, die Hamas hat die von Ihnen genannten Ziele erreicht?

Es ist noch zu früh, das abschließend zu sagen. Sicher ist, dass die Tendenz zur Normalisierung und zur Aufnahme von Beziehungen zu Israel nicht nur gestoppt, sondern umgekehrt wurde. Saudi-Arabien hat seine Position geändert. Der saudische Kronprinz Mohammad Bin Salman hat vor anderthalb Jahren noch nicht von einem palästinensischen Staat gesprochen. Viele arabische Länder waren gezwungen, ihre Haltung zu ändern, weil die arabische Öffentlichkeit so wütend ist über das, was Israel nach dem 7. Oktober in Gaza getan hat. Was die führende Position in der palästinensischen Politik angeht, sieht es so aus, als hätte die Hamas dieses Ziel erreicht. Wird das in einem oder zwei Jahren noch der Fall sein, wenn die Menschen die Kosten all dessen abschätzen? Ich weiß es nicht.

Interview

Rashid Khalidi ist emeritierter Professor für Moderne Arabische Studien an der Columbia University. Er hat an der Libanesischen Universität, der Amerikanischen Universität Beirut und der Universität Chicago gelehrt, war Mitherausgeber des Journal of Palestine Studies und Präsident der Middle East Studies Association. Er ist der Autor von acht Büchern, vor allem zur palästinensischen Geschichte. Im März ist sein Buch »Der Hundertjährige Krieg um Palästina: Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand« auf Deutsch erschienen.

Warum wurden so viele Geiseln genommen?

Die Hamas ging davon aus, dass sie durch die Gefangennahme vieler Geiseln die Freilassung von vielen Gefangenen erreichen kann. Es hat sich herausgestellt, dass sie sich geirrt hat. Die Hamas hat es mit einer israelischen Regierung zu tun, die sich anders als frühere Regierungen nicht um die Geiseln zu kümmern scheint. Sie will offenbar lieber den Krieg fortsetzen und die Besetzung des Gazastreifens aufrechterhalten, als Geiseln freizubekommen.

Wie beurteilen Sie die Beziehungen zwischen der Hamas und der Bevölkerung in Gaza?

Es gibt einige Umfragen von seriösen palästinensischen Meinungsforschungsinstituten, auf die wir uns beziehen können. Einige davon arbeiten auch mit Dahlia Scheindlin zusammen, die für die israelische Tageszeitung »Haaretz« schreibt. Es ist ganz klar, dass die Hamas im Gazastreifen vor dem Krieg weniger populär war als im Westjordanland. Sie ist eine autoritäre Bewegung, die 2006 eine Wahl gewonnen hat. Seitdem, also seit 18 Jahren, hat es keine Wahlen mehr gegeben, sie hat also keine demokratische Legitimation und regiert mit eiserner Hand in Gaza.

Hat sich das im Kriegsverlauf verändert?

Das ist schwer zu sagen, es gibt keine wirklich verlässlichen Informationen. Wenn man von den sehr begrenzten Umfragen ausgeht, die wir haben, scheint es so, dass die Hamas heute im Gazastreifen weiterhin weniger beliebt ist als im Westjordanland, vor allem bei älteren Menschen. Die Umfragen deuten darauf hin, dass sie bei jüngeren Menschen beliebter ist.

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Palästinensischen Autonomiebehörde bzw. der Fatah auf die Vorgänge im Gazastreifen und den Angriff der Hamas? Fatah und Hamas sind im Grunde politische Gegner.

Die Palästinensische Autonomiebehörde ist absolut unbeliebt. Sie hat so gut wie keine Legitimität bei der Bevölkerung, wobei sie in Gaza ironischerweise wohl etwas beliebter ist als im Westjordanland. Die Wahl von Mahmud Abbas zum Präsidenten war 2005, seine Amtszeit endete vor vielen Jahren. Durch die Sicherheitskooperation mit Israel ist die Palästinensische Autonomiebehörde zu einer Art Subunternehmer für die Besatzung geworden, was bedeutet, dass sie nicht in der Lage ist, die Palästinenser zu vertreten, die, ob sie nun den bewaffneten Kampf oder die Diplomatie unterstützen, sich energisch gegen Israels Kriegsverbrechen auflehnen.

Manche bezeichnen die Hamas schlicht als Mörderbande…

Ich denke, hier hilft ein Blick in die Geschichte, in der auch andere Gruppen so bezeichnet wurden. Zunächst zur Hamas: Man muss den Kontext verstehen, um sie zu verstehen. Man muss sie in den Kontext des Krieges gegen Palästina stellen, in dem Widerstand stattfindet. Hamas ist Teil einer Widerstandsbewegung und Widerstand nimmt verschiedene Formen an. Einige davon beinhalten Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Das war schon so, bevor es das humanitäre Völkerrecht gab. Die Nationale Befreiungsfront (FLN) in Algerien, die Irisch-Republikanische Armee (IRA) oder die Amerikaner, die die britische Kolonialherrschaft stürzten, haben Aktionen gemacht, die Verstöße sind gegen das, was heute als humanitäres Völkerrecht bezeichnet wird. Waren sie eine Bande mörderischer Verbrecher? Nun, so haben die Franzosen die FLN genannt und die Briten die IRA. So nennen die Israelis die Hamas. So nennen die amerikanischen Massenmedien die Hamas. Einige ihrer Aktionen beinhalten schreckliche Taten, die unbestreitbar gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Bedeutet das, dass diese Charakterisierung das Wesen von Hamas auf den Punkt bringt? Nein. Die Hamas hat schreckliche Taten begangen und ist gleichzeitig Teil einer Widerstandsbewegung. Ich persönlich halte im Übrigen den Begriff Terrorismus für einen stark ideologisch belasteten Begriff, der für bestimmte politische Zwecke verwendet wird.

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Was meinen Sie damit?

Was Israel tut, wird nie als Terrorismus oder als mörderisch bezeichnet. Die israelischen Generäle werden nie als Kriegsverbrecher bezeichnet. Vielleicht zwei Drittel der 42 000 in Gaza getöteten Menschen waren Zivilisten, wahrscheinlich mehr, wir kennen die genauen Zahlen nicht. Nennen wir diese Generäle mörderische Verbrecher? Das ist sicherlich nicht die Art und Weise, wie die Vereinigten Staaten, Westeuropa und große Medien, die im Besitz von Konzernen sind, sie beschrieben haben. Was eine Widerstandsbewegung oder Befreiungsbewegung oder Untergrundbewegung, wie auch immer man sie nennen will, tut, wird hingegen als Terrorismus bezeichnet und sie werden als Mörder bezeichnet.

Würden Sie sagen, dass die terroristischen Methoden, die von Widerstandsgruppen angewandt wurden und werden, wie auch von der Hamas, notwendig sind im Widerstandskampf?

Nein. Angriffe auf Zivilisten sind meines Erachtens schädlich für jede politische Bewegung. Ich glaube nicht, dass es für die IRA von Vorteil war, Menschen in Birmingham oder London zu töten. Ich denke nicht, dass das politisch korrekt war. Es war unmoralisch, ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Zudem glaube ich nicht, dass es politisch klug war. Das Gleiche gilt für das Töten von israelischen Zivilisten durch die Hamas und auch für das Töten palästinensischer Zivilisten durch Israel. Es ist unmoralisch, es ist ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, und es ist politisch dumm. Was Israel heute in Gaza tut, führt dazu, dass die Kinder von heute eines Tages, wenn sie 20 oder 21 Jahre alt sind, Israel bekämpfen werden.

Die Weltöffentlichkeit war schockiert über die Art und Weise, wie am 7. Oktober die Menschen massakriert wurden, auch von Tätern, die sich dem Morden von Hamas und Islamischer Dschihad spontan angeschlossen haben. Wie lässt sich diese rohe Gewalt erklären?

Die Abraham-Verträge

Die Abraham-Verträge leiteten im Jahr 2020 eine Wende im politischen Gefüge des Nahen Ostens ein. Einem Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrein und den USA folgten Abkommen mit dem Sudan und Marokko. Ihr Ziel war insbesondere eine engere ökonomische Kooperation in der Region auf den Feldern Finanzen und Investitionen, Wissenschaft und Technologie, Tourismus, Kultur und Bildung, Energie und Umwelt sowie Landwirtschaft und Ernährungssicherheit. Von politischer Bedeutung waren die Abkommen, weil sie eine Befriedung der Beziehungen Israels zu seinen Nachbarstaaten vorsahen, ohne dass hierfür die Gründung eines palästinensischen Staates und der Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten verlangt wurde. In den Vorjahrzehnten hatte seitens der arabischen Staaten stets die Devise gegolten: Anerkennung des Existenzrechts Israels und Normalisierung der Beziehungen gibt es nur gegen einen palästinensischen Staat. Das wurde durch die Abraham-Abkommen revidiert, was die Palästinenser zum Verlierer des Prozesses machte. kau

In den Köpfen vieler Menschen gibt es einen Unterschied zwischen Hightech-Tötung und dem Töten von Angesicht zu Angesicht. Ich denke, dass ein Teil des Schreckens von dem, was am 7. Oktober geschah, darin besteht, dass es ein Töten von Angesicht zu Angesicht war. Das Töten von Menschen mit einem Apache-Hubschrauber oder das Töten von Menschen durch Verhungern hat nicht die gleiche Wirkung. Hinzu kommt noch etwas: Offenbar sind weiße Leben, das Leben von Israelis für manche mehr wert als das Leben von Braunen und Palästinensern. Das ist für mich schwer zu verstehen, und ich finde es, offen gesagt, unmoralisch. Der Tod von Zivilisten in Israel ist tragisch, und der Tod von Zivilisten im Gazastreifen oder im Libanon ist tragisch. Aber die eine Tragödie wiegt die andere in keiner Weise auf oder rechtfertigt die andere. Ich verstehe, dass es für die Israelis ein psychologischer Schock war. Ich kann das Trauma und den Schmerz verstehen. Ich verstehe aber nicht, warum ein Leben mehr wiegt und mehr zählt als ein anderes. Ich kann diese Logik nicht verstehen, sie ist rassistisch.

Welche Lösung sehen Sie für diesen Konflikt? Eine internationale Konferenz, um die sogenannte Zweistaatenlösung umzusetzen?

Dazu müsste ich in eine Kristallkugel schauen, die ich nicht habe. Ich denke, eine Zweistaatenlösung ist unrealistisch. Denn Israel hat mit Unterstützung der Vereinigten Staaten alles getan, um eine Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Durch die Ansiedlung von 700 000 israelischen Staatsbürgern in den besetzten Gebieten und durch die Übernahme von 60 bis 65 Prozent der besetzten Gebiete ist ein palästinensischer Staat nicht möglich. Von einer Zweistaatenlösung zu sprechen, ist also ein Hirngespinst, dem amerikanische und westliche Politiker und viele andere anhängen, weil es sie davor bewahrt, über die harten Realitäten nachzudenken, die Israel – in vielen Fällen mit ihrer Unterstützung – geschaffen hat. Man könnte über eine Zweistaatenlösung sprechen, aber dann müsste man die Idee der palästinensischen Souveränität akzeptieren, was keine israelische Regierung bisher getan hat.

Ist eine Einstaatenlösung denkbar?

Das setzt voraus, dass zuallererst die Wut und Bitterkeit überwunden werden, die durch diesen Krieg entstanden sind. Und es wird eine völlig andere Art von Vermittlern erfordern. Die Vereinigten Staaten sind als Vermittler in diesem Konflikt ungeeignet. Sie sind der Verbündete Israels und selbst Kriegspartei.

Der Westen, die USA, Europa haben die Hamas auf die Liste der terroristischen Gruppen gesetzt. Ist das ein Fehler und sollten sie mit der Hamas verhandeln?

Derzeit wird argumentiert: Mit Terroristen kann man nicht verhandeln. Wäre diese Haltung in Irland befolgt worden, hätte es das Karfreitagsabkommen nicht gegeben. Wäre das in Südafrika befolgt worden, hätte es das Ende der Apartheid nicht gegeben. Man verhandelt mit Leuten, gegen die man kämpft. Du lehnst ihre Methoden ab? Die Briten haben sich mit Leuten zusammengesetzt, die britische Zivilisten in England getötet haben. Die Südafrikaner setzten sich mit Leuten zusammen, die weiße Südafrikaner getötet hatten. Welchen Sinn hat es, mit Leuten zu verhandeln, die nicht mit dir im Konflikt sind? Israel will nicht verhandeln, und die Amerikaner und die Europäer haben diese Position übernommen. Das ist tragisch, denn was auch immer man von der Hamas halten mag und was auch immer die Hamas getan haben mag, sie haben gesagt, sie seien zu einem Waffenstillstand bereit. Ich würde sagen, dass ein Waffenstillstand, trotz aller Probleme, besser ist als Krieg.

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