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Zweites Haus zur Wannsee-Konferenz
Seminargebäude für die Gedenk- und Bildungsstätte wird mit einer Tagung eröffnet
Dass die jüdische Familie von Éva Fahidi schon 1936 zum katholischen Glauben übergetreten war, konnte sie nicht mehr retten. In den Augen der Faschisten war es schließlich keine Frage der Religion: Im Mai 1944 deportierten die Nazis die ungarische Familie ins KZ Auschwitz-Birkenau, ermordeten Mutter und Schwester gleich bei ihrer Ankunft in der Gaskammer. Auch der Vater überlebte nicht. Nur Éva Fahidi kam nach sechs Wochen in ein Außenlager des KZ Buchenwald und konnte 1945 vom Todesmarsch fliehen. Sie kehrte in ihre Heimatstadt Debrecen zurück und starb erst im September 2023 im Alter von 97 Jahren in Budapest. Fahidi verlor in der Shoa 49 Angehörige.
Als Éva Fahidi im Januar 2020 zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung ins Berliner Haus der Wannsee-Konferenz kam, sprach sie dort in einem Festzelt zu den Gästen. Diese behelfsmäßige Lösung wäre nun nicht mehr notwendig. Das lange geplante Seminargebäude auf dem Gelände der Gedenk- und Bildungsstätte ist fertig und wird an diesem Dienstag mit einer Tagung eröffnet. Erwartet werden dazu Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), Kultursenator Joe Chialo (CDU) und Architekt Volker Staab, dessen Büro 2015 beim Gestaltungswettbewerb den ersten Preis erhalten hatte. 2016 begann das Architektenbüro, die Realisierung seines Entwurfs zu planen. 2022 starteten die Bauarbeiten. Bauherr war das Land Berlin, vertreten durch seine Immobilienmanagementfirma Bim. Für 4,15 Millionen Euro entstanden 450 Quadratmeter Nutzfläche.
Die Gedenkstätte braucht den Platz, weil neun Räume im Erdgeschoss der historischen Villa am Wannsee schon mit der Dauerausstellung belegt sind. Diese informiert über die berüchtigte Konferenz vom 20. Januar 1942, bei der unter Leitung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich organisatorische Details der bereits angelaufenen Ermordung der europäischen Juden besprochen wurden. Das überlieferte Protokoll spricht, die grausamen Tatsachen verhüllend, von der »Endlösung der Judenfrage« und von der »Sonderbehandlung« der nach Osten verschleppten Menschen.
»Ein ergänzendes Seminargebäude wurde notwendig, um der wachsenden Zahl an Besuchern gerecht zu werden und das Tagungsangebot erweitern zu können«, teilt das Büro Staab in einer Projektbeschreibung mit.
Die Tagung zur Inbetriebnahme des Seminargebäudes, die am Mittwoch fortgesetzt wird, widmet sich dem Leben und Werk des Historikers Joseph Wulf. 1912 in Chemnitz geboren und in Krakau aufgewachsen, hatte Wulf Auschwitz überlebt. Er arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg für die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen. Ab 1947 lebte er in Paris, wo er das Zentrum für die Geschichte der polnischen Juden mitgründete, und dann von 1955 bis zu seinem Selbstmord 1974 in Westberlin. Wulf veröffentlichte die ersten Dokumentationen über die Shoa in deutscher Sprache. Doch die Namen von Tätern zu nennen, die unbehelligt in der Bundesrepublik lebten, stieß auf Ablehnung.
»Du kannst Dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«
Joseph Wulf Historiker
»Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hatte keine Wirkung«, musste Wulf feststellen. »Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«
Der Historiker hatte sich einst auch erfolglos darum bemüht, im 1914/15 für den Fabrikanten Ernst Marlier errichteten Haus der Wannsee-Konferenz ein Forschungsinstitut einzurichten. Erst 1992 wurde sein Traum mit der Gedenk- und Bildungsstätte wahr. Die Bibliothek im Haus trägt den Namen von Joseph Wulf.
»Es ist die erste bauliche Erweiterung der Gedenk- und Bildungsstätte seit der Eröffnung 1992«, sagt Sprecher Eike Stegen über das Seminargebäude. Es enthält einen Tagungssaal und Nebenräume sowie ein verglastes Foyer zur denkmalgeschützen Villa hin. Die Dauerausstellung lockte auch am Wochenende zahlreiche Besucher an. Viele kommen gezielt hierher, andere schauen spontan herein, wenn sie am Wannsee wandern.
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Am Großen Wannsee 56-58, 14 109 Berlin. Mo. bis So., 10 bis 18 Uhr, Eintritt frei, Tel.: (030) 217 99 86 00, ghwk.de
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