Vorwurf des Antisemitismus an linke Studierende oft unbegründet

Eine neue Studie der Uni Mannheim zeigt: Der Antisemitismus-Vorwurf gegen linke Studierende geht »an den Tatsachen vorbei«

»Stop arming Israel – keine Waffen für Israel« steht auf einem Banner während eines propalästinensischen Protestes gegen einen Vortrag des Grünen-Politikers Beck an der Technischen Universität in Berlin.
»Stop arming Israel – keine Waffen für Israel« steht auf einem Banner während eines propalästinensischen Protestes gegen einen Vortrag des Grünen-Politikers Beck an der Technischen Universität in Berlin.

Wer in den vergangenen Monaten die aufgeregte mediale Debatte rund um propalästinensische Protestaktionen an deutschen Unis verfolgt, könnte zu dem Schluss kommen: Unter linken, propalästinensischen Studierenden sei Antisemitismus besonders weit verbreitet. Eine neue Studie der Mannheimer Proffessoren Marc Helbling und Richard Traunmüller zur Verbreitung von Antisemitismus, Antizionismus und propalästinensischen Einstellungen kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis: Tatsächlich handele es sich bei der Gruppe mit der am stärksten ausgeprägten propalästinensischen Haltung um die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in Deutschland.

Antisemitismus weiterhin verbreitet

Traditionell antisemitische Einstellungen lassen sich laut der Studie weiterhin in der deutschen Gesellschaft »deutlich nachweisen«. Acht Prozent der Bevölkerung sind demnach der Meinung oder eher der Meinung, dass Juden »mehr hinter Geld her« seien als andere Menschen. Weitere 13 Prozent stimmen außerdem der Aussage (eher) zu, dass Juden »zu viel Einfluss in der Welt« hätten. Noch höher ist laut der Erhebung der Anteil derjenigen, die die Ansicht vertreten Juden, sprächen »nur über den Holocaust, um ihre politische Agenda voranzutreiben« (18 Prozent).

Allerdings gehen die Autoren der Studie davon aus, dass traditionell antisemitische Einstellungen noch weiter verbreitet sind als in der Befragung festgestellt. Angesichts der gesellschaftlichen Ächtung von Antisemitismus sei bei den Befragungen von einem hohen Grad an sozial erwünschtem Antwortverhalten auszugehen.

Außerdem haben die Forscher die Verbreitung antizionistischer beziehungsweise israelfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung untersucht. Helbling und Traunmüller verstehen Antizionismus in ihrer Studie als eine nicht-traditionelle Form von Antisemitismus – eine Annahme, die in der Antisemitismusforschung umstritten ist.

82 Prozent der Bevölkerung sind laut der Studie der Ansicht, dass Israel das Recht hat, »als Heimatland für das jüdische Volk zu existieren«. 86 Prozent finden, dass Israel das Recht hat, »sich gegen diejenigen zu verteidigen, die es zerstören wollen«. Diese breite Unterstützung des Staates Israel heiße jedoch nicht, dass es in der deutschen Bevölkerung nicht auch scharfe Kritik an der israelischen Politik insbesondere gegenüber Palästinensern gebe.

Eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist der Ansicht, dass die Palästinenser »ein Recht auf einen eigenen Staat« haben (85 Prozent). 62 Prozent sind der Meinung, die Palästinenser würden »von den Israelis seit Jahrzehnten unterdrückt« (62 Prozent).

Jung, links, propalästinensisch – alt, rechts, antisemitisch

Der zweite Teil der Veröffentlichung beschäftigt sich mit Annahme, im jungen, linken und universitären Milieu sei Antisemitismus besonders weit verbreitet. Tatsächlich kommt die Studie aber zu dem Schluss: Der an dieses Milieu gerichtete Antisemitismusvorwurf gehe an den gesellschaftlichen Tatsachen vorbei.

Zu diesem Ergebnis gelangten die Forscher, indem sie jeweils die Verbreitung von Antisemitismus und propalästinensischen Haltungen nach Altersklassen und politischer Einstellung und einmal nach Altersklasse und Bildungsabschluss untersuchten. Danach prüften die Studienautoren, ob es eine Korrelation zwischen propalästinensischen und antisemitischen Einstellungen gibt.

Junge Menschen unter 35, die sich politisch links verorten und einen Universitätsabschluss haben, sind demnach die am wenigsten antisemitisch eingestellte Gruppe in der deutschen Bevölkerung. Und umgekehrt: je älter, rechtsorientierter und weniger gebildet, desto mehr traditionellen Antisemitismus konnten die Forscher feststellen. Nur in der Kategorie »Antizionistischer Antisemitismus«, schneiden junge linke Menschen leicht schlechter ab als andere Gruppen. Insgesamt bestünden hinsichtlich antizionistischer Einstellungen allerdings nur ver- nachlässigbare Unterschiede nach Alter, politischer Orientierung und Bildung.

Gleichzeitig ist eine propalästinensische Haltung bei jungen, linken Menschen mit Universitätsabschluss am stärksten ausgeprägt. Und umgekehrt: je älter, rechtorientierter und weniger gebildet, desto weniger konnten die Forscher propalästinensische Haltungen feststellen.

Kein Zusammenhang zwischen Antisemitismus und propalästinensischer Einstellung

Die entscheidende Frage sei aber, so Helbling und Traunmüller, ob es sich bei den propalästinensischen Einstellungen des jungen, linken und universitären Milieus »um mehr oder weniger versteckten Antisemitismus handelt oder ob sich diese beiden Orientierungen klar voneinander abgrenzen lassen«. Die beiden Forscher stellen fest: Zwischen propalästinensischen Haltungen und traditioneller Antisemitismus ergibt sich eine Korrelation von nur 0,07. Bedeutet: Beide Phänomene sind nahezu unabhängig voneinander.

Schlüsselt man den Zusammenhang zwischen propalästinensischer Einstellung und traditionellem Antisemitismus auf, ergibt sich ein noch deutlicherer Befund: Bei linken Menschen mit Universitätsabschluss kann überhaupt keinen Zusammenhang zwischen beidem festgestellt werden – hier liegt der Korrelationswert bei -0,04.

Ein etwas größerer Zusammenhang besteht aber laut der Studie zwischen propalästinensischen Einstellungen und »antizionistischem Antisemitismus«. Hier liegt der Korrelationswert in der Gesamtbevölkerung bei 0,33, was als mittelstarke Korrelation gilt.

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