Hass prallt auf Hass

Michael Lüders: »Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Familie, die vor den Angriffen der israelischen Armee im nördlichen Gazastreifen geflohen ist, steht an einem Zeltlager, das im Yarmouk-Stadion errichtet wurde.
Eine Familie, die vor den Angriffen der israelischen Armee im nördlichen Gazastreifen geflohen ist, steht an einem Zeltlager, das im Yarmouk-Stadion errichtet wurde.

Über ein Jahr schon dauert der mörderische Krieg, der am 7. Oktober 2023 begann, als die Hamas und andere Gruppen vom Gazastreifen aus Südisrael angriffen. Der Horror jenes Tages »ist einerseits singulär – und steht gleichzeitig stellvertretend für jenen Horror, wie ihn Israel/Palästina seit Jahrzehnten erlebt«, schreibt Michael Lüders in seinem neuen Buch »Krieg ohne Ende«. Wenn man es aufschlägt, blickt man zuerst auf eine Landkarte. Links oben Griechenland, rechts unten Oman, rechts oben Turkmenistan, links unten Tschad. Und zwischen Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten liegt Israel. Wie klein dieses Land am Mittelmeer eigentlich ist – mit rund 21 000 Quadratkilometern etwa so groß wie Hessen. Allerdings hat sukzessive eine Erweiterung des Kernlands stattgefunden, und es kamen mit dem Westjordanland, dem Gazastreifen, Ostjerusalem und den Golanhöhen besetzte beziehungsweise annektierte Gebiete hinzu. Genau genommen ist der ganze Staat ja auf fremdem Territorium entstanden, auf dem Gebiet des historischen Palästina, wo der UN-Teilungsplan von 1947 einen israelischen und einen palästinensischen Staat vorsah.

Michael Lüders, renommierter Politik- und Islamwissenschaftler, lange Nahost-Korrespondent der »ZEIT« und Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft in Nachfolge des verstorbenen Peter Scholl-Latour, beleuchtet so detailliert wie spannungsvoll die Hintergründe und Ursachen der Konfrontation zwischen Juden und Arabern. Akribisch genau zeichnet er die Konfliktlinien nach, die immer wieder zu Eskalationen führten, und wirft dabei auch einen kritischen Blick auf die bundesdeutsche Politik. Die Unterstützung Israels sei »Staatsräson«? Allein schon dieser disziplinierende Begriff will nicht zu einer Gesellschaft passen, die sich freiheitlich und demokratisch nennt.

Aufgewachsen in der DDR, stand für mich das Existenzrecht Israels nie infrage. Ein kapitalistischer Staat und US-Bündnispartner, was soll’s. Samstags um acht schaltete meine Mutter den Berliner Rundfunk ein. Andächtig lauschten wir der Sabbatfeier mit Oberkantor Estrongo Nachama. Von einer Klassenfahrt nach Jerusalem in den 90er Jahren brachte mein Sohn die stärksten Eindrücke mit. Hätte er gewusst, dass man dort (wie Michael Lüders) bei der »Aktion Sühnezeichen« Zivildienst leisten kann, er hätte es getan. Und wir hätten Angst vor den Terroranschlägen gehabt, an die man sich dort schon gewöhnt hatte …

Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus in eins zu werfen – Michael Lüders setzt sich ausführlich damit auseinander – erscheint mir so hanebüchen, dass ich es mir bestenfalls aus dem schlechten Gewissen erklären kann, in der BRD mit den Wurzeln der NS-Diktatur nicht gründlich aufgeräumt zu haben. Dass Hans Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, von 1953 bis 1963 Chef des Bundeskanzleramts unter Adenauer war und BND wie Verfassungsschutz kontrollierte, ist nur ein Beispiel dafür, wie einstige Nazis in Rang und Würden kamen. Anders als in der DDR erfuhren viele Menschen im Westen erst durch die 1979 ausgestrahlte US-Fernsehserie »Holocaust« von den Ausmaßen des Massenmordes an den Juden.

Hass prallt auf Hass. Und Deutschland gießt Öl ins Feuer.

Mich ließen die Gräuel der Nazizeit schon als kleines Kind nicht schlafen. Von der Nakba, der gewaltsamen Vertreibung der Palästinenser zwischen 1947 und 1949, habe ich indes erst später erfahren. Damals, schreibt Michael Lüders, haben 750 000 Menschen ihre Heimat verloren. Nach dem Sechstagekrieg 1967 kamen 350 000 hinzu. Wie das auf brutale Weise vonstattenging – das Blut gefriert einem beim Lesen. Gewalt und Gegengewalt – zumal die »zionistische, später israelische Führung keine Veranlassung sah und sieht, dem nächsten Nachbarn auf Augenhöhe zu begegnen«. Wie Friedensinitiativen versandeten, wie sich Positionen verhärteten, während die panarabische Dimension der Palästinafrage unübersehbar wurde – akribisch genau folgt das Buch den Entwicklungen auf beiden Seiten und stellt sie in geopolitische Zusammenhänge.

Früh schon war die Lage verfahren. »Die offizielle israelische und israelaffine Sichtweise in westlichen Ländern verweist gerne darauf, dass die Juden den Teilungsplan anerkannt, also Kompromissbereitschaft gezeigt hatten, Palästinenser und Araber hingegen auf Maximalforderungen bestanden … aber: Warum hätten Palästinenser und Araber in der beginnenden Ära des Antikolonialismus in die Inbesitznahme ihres Landes durch eine siedlerkoloniale Bewegung einwilligen sollen? … Und weshalb sollten sie den Preis für den Holocaust zahlen, mit dem sie nichts zu tun hatten?« Auf israelischer Seite galt die Devise »Fakten schaffen ohne Rücksicht auf Verluste«. Haarsträubende Einzelheiten über Bomben- und Drohnenangriffe, Verhaftungen und Folterungen sowie die Vernichtung durch Hunger sind im Buch zusammengetragen. Die vollständige Zerstörung jedweder Infrastruktur ist Programm.

Hass prallt auf Hass. Und Deutschland gießt Öl ins Feuer. Gleich zu Beginn des Buches gibt Michael Lüders zu bedenken, »dass sich die deutschen Rüstungsexporte in Richtung Israel 2023 verzehnfacht haben. «Vor allem Artillerie- und Panzermunition kam zuverlässig im Gazastreifen zum Einsatz. Darüber hinaus lieferte Berlin Schusswaffen verschiedenen Kalibers und allein in den ersten sechs Kriegsmonaten 500 000 Schuss Munition für Maschinengewehre.» Wie weit soll die Zahl der zivilen Todesopfer in Gaza und im Libanon noch wachsen, ehe die offizielle Bundespolitik den unkritischen Schulterschluss mit einer ultrarechten israelischen Regierung infrage stellt? Und nun hat der Konflikt auch den Iran erreicht, der Hamas und Hisbollah unterstützt. Jederzeit kann die Gewalt die gesamte Region in Brand setzen, mit fatalen Folgen auch für uns in Europa.

Die UN-Vollversammlung hat im September mit überwältigender Mehrheit ein Ende der israelischen Besatzung in den Palästinensergebieten gefordert. Deutschland hat sich der Stimme enthalten. Schon im Dezember 2023 klagte Südafrika gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof, im März 2024 klagte Nicaragua gegen Deutschland wegen Beihilfe. Ein aufstrebender globaler Süden wehrt sich gegen westliche Arroganz. «Bilder vom Einsatz deutscher Waffen in Gaza oder der polizeilichen Auflösung propalästinensischer Proteste sind um die Welt gegangen und haben Deutschland einen Imageverlust beschert, der jenem der USA im Zuge des Irakkriegs 2003 in nichts nachsteht.»

Michael Lüders: Krieg ohne Ende? Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen. Goldmann Verlag, 400 S., geb., 22 €.
nd-Literatursalon mit Michael Lüders am 6. November, 18 Uhr.

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