Naziopfer durch die virtuelle Brille sehen

Die Geschichte von fünf jüdischen Zeitzeugen wird auf spezielle Art bewahrt

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.
Mit einer VR-Brille vom Schicksal eines Überlebenden der Shoah erfahren. VR steht für virtuelle Realität.
Mit einer VR-Brille vom Schicksal eines Überlebenden der Shoah erfahren. VR steht für virtuelle Realität.

Im Brandenburg-Museum in Potsdam wurde am Donnerstagabend die Ausstellung »In Echt?« eröffnet, deren Besucher jüdischen Naziopfern virtuell begegnen. Mit dabei ist die 96-jährige Ruth Winkelmann, eine von fünf speziell interviewten Personen. Dass sie lebt, ist für viele ein Glück. Der zeitliche Abstand zu den Jahren 1933 bis 1945 bringt es mit sich, dass die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen »von Jahr zu Jahr kleiner wird«, wie Museumsleiterin Katja Melzer sagt. Umso wichtiger sei es, ihre Stimmen zu bewahren. »In Echt?« weise einen möglichen Weg, die Lücke zu füllen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gebe.

»In Echt?« wurde vor über einem Jahr als Wanderausstellung konzipiert und unter Mithilfe der Potsdamer Filmuniversität realisiert. Von drei Frauen und zwei Männern, alle Opfer des faschistischen Rassenwahns, kann einen räumlichen Eindruck bekommen, wer eine spezielle Brille aufsetzt, während er ihren Geschichten lauscht. »Das war schon beeindruckend, wie echt das aussieht«, schrieb nach dieser Erfahrung eine junge Schülerin. »Es war, als würde man der Person allein gegenübersitzen und sie würden nur mir allein erzählen.«

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»Es ist komisch, in diesem Raum zu sprechen«, berichtet Ruth Winkelmann von ihren Eindrücken am Drehort. Sie hatte sich bereit erklärt, an diesem Projekt mitzuwirken. Für sie war die Prozedur neu und sehr fremd. Seit Jahrzehnten wird sie zu Veranstaltungen eingeladen, berichtet von ihren bitteren Erlebnissen als halbjüdisches Mädchen in der Hitlerzeit. Nun musste sie zwecks virtueller Aufnahme in einem kleinen, völlig leeren Raum Platz nehmen. »Als ich drin saß, war es, als wäre ich zu Eis erstarrt. Ich musste mich erst einmal sammeln. Das Gefühl, dass ich lebe, kam aber zurück.«

Wie auch die andern vier Protagonisten beantwortete Winkelmann zehn Fragen zu ihren Leiden bis zur Befreiung und zu ihrem Leben danach. Sie war gewohnt, dies Menschen persönlich zu schildern, vor allem jüngeren Menschen. Nun saß sie einsam in dieser Enge. »Es fiel mir sehr schwer, aber ich habe es geschafft.« Es motivierte sie der Wille, ihre Geschichte zu erzählen. Sie schont sich nicht. Trotz ihres hohen Alters bringt sie die Kraft dafür auf.

Nach drei Stunden Gespräch mit jungen Menschen hat Winkelmann das Gefühl, »eine Menge bewerkstelligt zu haben«. Viele wollen dann ihr Buch lesen und es sich signieren lassen. »Mir ist kein Weg zu weit«, versichert Winkelmann. »Ich hoffe, dass ich diese Kraft noch lange habe.« Ihre einzige Bedingung für Auftritte ist, dass sie abgeholt und anschließend auch wieder nach Hause gefahren wird.

Etwa ein Drittel der Schüler sei sehr interessiert, berichtet Winkelmann. Ein weiteres Drittel höre immerhin zu, und das verbleibende Drittel sei geistig abwesend. Das sind die von ihr erlebten Durchschnittswerte und diese stimmen sie zuversichtlich. Wenn es Desinteresse gebe, dann auf eine eher stille Weise. »Ablehnend auseinandergesetzt hat sich gar keiner mit mir.«

Ihre Zuhörer bringen ihr in der Regel Respekt und Hochachtung entgegen. Auch dies habe sie schon gehört: »Wenn meine Großeltern so offen wären wie Sie, würde es anders aussehen.« Ruth Winkelmann, geborene Jacks, kam 1928 in Hohen Neuendorf bei Berlin zur Welt und verbrachte dort eine glückliche Kindheit in ihrer liberalen deutsch-jüdischen Familie. Ihre Mutter war zum Judentum konvertiert, in diesem Glauben wurde die kleine Ruth auch erzogen. Das wurde ihr insofern zum Verhängnis, als dass sie deshalb ab 1940 selbst als Halbjüdin den Davidstern tragen musste.

»Als ich drin saß, war es, als wäre ich zu Eis erstarrt. Ich musste mich erst einmal sammeln. Das Gefühl, dass ich lebe, kam aber zurück.«

Ruth Winkelmann Zeitzeugin

1942 erzwang der Staat die Scheidung der Eltern. Der jüdische Vater wurde, wie alle seine Verwandten, in Auschwitz ermordet. Mit 14 Jahren wurde Ruth zur Zwangsarbeit in einer Uniformfabrik verpflichtet. »Das hieß zwölf Stunden Arbeit am Tag oder in der Nacht.« Wenn sie davon erzählt, sprengt das natürlich die Vorstellungskraft der Minderjährigen, die auch kaum nachfühlen können, was es bedeutete, dass auf der Lebensmittelkarte für Juden die Hälfte gestrichen war, sie also gegenüber ihren Mitbürgern auf halbe Ration gesetzt wurden. »Wir waren froh, wenn wir Pellkartoffeln hatten.« Ratlose Jugendliche denken im Nachhinein, sie hätte Nudeln essen können, wenn es an Kartoffeln mangelte.

Einer bürokratischen Unachtsamkeit wegen bleibt Ruth Winkelmann die Deportation erspart. In einer Laubenkolonie in Berlin-Wittenau überlebt sie mit ihrer Mutter den Krieg, doch ihre kleine Schwester erliegt den Strapazen. Weil ein Christ sie rettete, nahm Winkelmann nach dem Krieg den evangelischen Glauben an. »Alle Religionen sind wertvoll, sind gleich viel wert«, sagt sie.

»Die jungen Leute haben keine Verantwortung dafür, was geschehen ist. Sie haben aber eine Riesenverantwortung auf andere Art, nämlich zu verhindern, dass sich das wiederholt.« In großen Buchstaben steht dieser Satz von Kurt Hillmann im Museum zu lesen. Er hat in der Nazizeit seine gesamte Familie verloren, besuchte in der DDR die Schule und wurde Außenhändler. Die Ausstellung »In Echt?« lässt weiterhin zu Wort kommen: Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Inge Auerbach, Chemikerin, Leon Weintraub, Arzt.

Kann eine virtuelle Präsentation das persönliche Gespräch ersetzen? Ruth Winkelmann überlegt einen Augenblick: »Das Gefühl kann die Technik nicht wiedergeben.«

»In Echt? Virtuelle Begegnung mit NS-Zeitzeug:innen« bis 23. Februar im Brandenburg-Museum, Am Neuen Markt 9; Di bis So 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr.

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