Kunst im Berliner Osten: Flaschenpost aus einer anderen Welt

Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall ist der Berliner Osten von sozialistischer Monumentalkunst geprägt. Ein Spaziergang

  • Jens Malling
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Bild im Bild: Im Mosaik »Unser Leben« (1964) von Walter Womacka malt ein Künstler ein Frauenantlitz, während direkt neben ihm Industriearbeit geleistet wird.
Ein Bild im Bild: Im Mosaik »Unser Leben« (1964) von Walter Womacka malt ein Künstler ein Frauenantlitz, während direkt neben ihm Industriearbeit geleistet wird.

Wenn man den Kopf hebt, findet der Blick Ruhe. Über dem Gedränge von Autos und Fußgänger*innen auf dem Alexanderplatz kommt eine besondere Form von Kunst zum Vorschein. Motive aus der Zeit des Sozialismus prägen noch heute das Straßenbild im Ostteil von Berlin – der ehemaligen Hauptstadt der DDR. Der Lärm und die Hektik unten bilden einen Kontrast zu den oben abgebildeten Figuren. Harmonisch, beinahe kontemplativ wirken sie an den Wänden der Gebäude. Sie strahlen Selbstvertrauen und einen Glauben an die Zukunft aus.

Nicht weit vom S-Bahnhof Alexanderplatz entfernt schmückt das sieben Meter hohe und 127 Meter lange Mosaik »Unser Leben« (1964) alle vier Seiten vom Haus des Lehrers – ursprünglich ein Kulturzentrum für Pädagog*innen, das von 1961 bis 1964 erbaut wurde. In der epischen Komposition gehen Motive ineinander über: Ein verliebtes Paar vertreibt sich die Zeit auf einer Blumenwiese, die Arbeiter*innen in der Schwerindustrie gehen ihren Tätigkeiten nach, ohne sich zu beklagen, in einem Klassenzimmer erkunden fleißige Schüler*innen die Welt mithilfe von Mikroskopen und Fernrohren. Ein Wissenschaftler hält ein Reagenzglas mit einer rötlichen Flüssigkeit vor sich – ein neues Präparat, das offensichtlich im Dienste der Menschheit entwickelt wurde. Aus vielen Szenen und rund 800 000 Mosaiksteinen hat Walter Womacka (1925–2010), einer der wichtigsten Vertreter des sozialistischen Realismus in der DDR, hier ein Panorama über eine sozialistische Mustergesellschaft geschaffen. »Unser Leben« gehört zu den besten Beispielen der Monumentalkunst der DDR.

Werke im Stil dieses Mosaiks waren in den 60er und 70er Jahren weitverbreitet – eine Zeit, in der die Künstler*innen der DDR besonders günstige Bedingungen vorfanden. Überall schmückten ihre Werke Straßen und Plätze. Glasmalereien, Friese, Bronzereliefs – althergebrachte Synthesen aus Kunst und Architektur, die im neuen gesellschaftlichen Kontext neue Bedeutung gewannen. Vor allem stammt aus dieser Zeit eine große Anzahl an farbenfrohen, unterschiedlich gemusterten Wandmosaiken. Oft verlegten die Künstler*innen sie mit Fliesen aus der berühmten Meissener Porzellanfabrik. Indem sie die richtigen sozialistischen Werte vermitteln sollten, hatten die Werke in der DDR auch eine erzieherische Funktion. Natürlich ging es dabei auch darum, die Unterstützung des Regimes durch die Bevölkerung zu sichern. So kam dem Alexanderplatz als einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Republik in dieser Hinsicht besondere Bedeutung zu. Weil hier täglich Tausende von Bürger*innen vorbeikamen, legte die Regierung besonderen Wert auf die Ausgestaltung der Gebäude.

Zwei weitere wichtige Beispiele der DDR-Monumentalkunst sind in der Nähe zu sehen: Womackas 24 mal 4,50 Meter großes Kupferrelief »Der Mensch überwindet Zeit und Raum« (1971), auf dem ein Kosmonaut, begleitet von zwei weiteren Helden des Arbeiterstaates, in eine verheißungsvolle sozialistische Zukunft stürzt. Dazu ein Fries des Malers Willi Neubert (1920–2011), das das ehemalige Pressecafé schmückt, einst beliebter Aufenthaltsort von Journalist*innen in der DDR.

Von Protagoras inspiriert: Walter Womacka, »Der Mensch, das Maß aller Dinge, Fassadenarbeit aus emaillierten Kupferplatten, 1968
Von Protagoras inspiriert: Walter Womacka, »Der Mensch, das Maß aller Dinge, Fassadenarbeit aus emaillierten Kupferplatten, 1968

Vernachlässigung, Ignoranz und ideologische Abneigung haben den Bestand an DDR-Kunst im öffentlichen Raum seit 1990 erheblich reduziert. Viele wichtige Werke sind verloren gegangen. Doch in den vergangenen Jahren scheint das Verständnis für die Bedeutung dieser Kunst zu wachsen. Der 76 Meter lange und 3,50 Meter hohe Fries von Neubert ist Teil dieses Trends. Seit 1992 war das Werk mit dem Titel »Die Presse als Organisator« (1973) hinter einer Werbung versteckt. Erst Ende 2021 wurde es nach einer umfangreichen Restaurierung wieder sichtbar gemacht und somit aus der Vergessenheit geholt. Passant*innen können nun wieder die in Schwarz-Weiß sowie Rot-, Orange- und Blautönen gehaltenen Motive zur Rolle der Presse im Sozialismus betrachten: Mikrofone, Kameras, fleißiges Kritzeln auf einem Notizblock, aufmerksames Zeitunglesen. Zahlreiche Szenen zeigen Journalist*innen, die Leistungen von Sportler*innen und Wissenschaftler*innen dokumentieren.

Wenn man vom Alexanderplatz weiter durch das Stadtzentrum in Richtung Potsdamer Platz läuft, tauchen einige der besten Monumentalwerke der DDR auf. Ein besonderes Kunsterlebnis erwartet denjenigen, der sich die Zeit nimmt, in das ehemalige Staatsratsgebäude der DDR – heute ist hier die European School of Management and Technology untergebracht – zu gehen und die Glasfenster von Walter Womacka im Treppenhaus zu betrachten. Das Sonnenlicht von draußen lässt die Motive leuchten.

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An der Jungfernbrücke ganz in der Nähe ziert ein riesiges Wandgemälde eine Fassade über dem Spreekanal. Auch hier war Womacka der Schöpfer. »Der Mensch, das Maß aller Dinge« (1968) lautet der Titel, inspiriert von dem griechischen Philosophen Protagoras. Und an der Ecke zwischen Leipziger Straße und Wilhelmstraße werden Schulklassen und Touristengruppen von Max Lingners (1888–1959) »Aufbau der Republik« (1952) in den Bann gezogen. Das Wandbild, gemalt auf Fliesen aus Meissener Porzellan, schmückt einen Säulengang entlang des Gebäudes, in dem 1949 die DDR ausgerufen wurde – heute befindet sich hier das Bundesfinanzministerium.

Das 24 Meter lange und drei Meter hohe Gemälde stammt aus der Zeit ein Jahrzehnt oder zwei, bevor diese Form der Mosaik-Kunst sich wirklich durchgesetzt hat. Es zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Anzüge, Kleider, Schuhe, Hüte und Frisuren der dargestellten Figuren der Mode der 50er Jahre folgen. Bauernmädchen, Maurer, Architekten, Traktorfahrer, Ingenieure sind hier zu sehen. Schwerpunkt des Kunstwerks ist die Verbundenheit zwischen Vertretern verschiedener sozialer Schichten und Berufe. Akademiker, Arbeiter und Funktionäre bilden eine unzertrennliche Einheit. Mit Lächeln und Enthusiasmus bringt jeder seine Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft ein. Die Gemeinschaft schließt alle ein. Wie eine Flaschenpost aus einer verlorenen Welt strömt die Botschaft dem Betrachter entgegen.

Ebenfalls von Walter Womacka stammt diese Glasmalerei mit dem Titel »Aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« (1964, Detailansicht).
Ebenfalls von Walter Womacka stammt diese Glasmalerei mit dem Titel »Aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« (1964, Detailansicht).
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