Neukölln-Prozess: Öffentlichkeit gibt Sicherheit

Ferat Koçak sagt als Zeuge zum »Neukölln-Komplex« aus und spricht von Zuflucht im öffentlichen Raum

Der Linke-Abgeordnete Ferat Koçak klärt in der Öffentlichkeit über den Anschlag auf ihn und seine Familie auf – und darüber, welche Ungereimtheiten es in den Ermittlungen gibt.
Der Linke-Abgeordnete Ferat Koçak klärt in der Öffentlichkeit über den Anschlag auf ihn und seine Familie auf – und darüber, welche Ungereimtheiten es in den Ermittlungen gibt.

Der Bürgersteig vor dem Eingang des Berliner Landgerichts ist kurz vor 9 Uhr morgens bereits mit Dutzenden Menschen gefüllt. Sie sind aus verschiedenen Bezirken in den Ortsteil Moabit gereist und aktiv in Gruppen wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Neukölln (VVN-BdA), den Omas gegen Rechts und dem Verein Moabit hilft, der Geflüchtete unterstützt. Die Aktivist*innen haben Transparente, Brötchen und Kaffee mitgebracht. »Den rechten Terror stoppen. Neukölln-Komplex aufklären! Täter zur Rechenschaft ziehen!«, ist auf ihren Flyern zu lesen.

Die Antifaschist*innen unterstützen am Montag den Linke-Abgeordneten Ferat Koçak und den Rudower Buchhändler Heinz Ostermann, die in einem Berufungsprozess als Zeugen zum »Neukölln-Komplex« aussagen – eine Serie rechtsextremer Anschläge im Süden Berlins. Sowohl Koçak als auch Ostermann wurden am 1. Februar 2018 Opfer eines Brandanschlags.

Angeklagt sind die Neonazis Tilo P. (38) und Sebastian T. (41), die in erster Instanz freigesprochen wurden. Seit September läuft der Berufungsprozess vor dem Landgericht. Die Anklage wirft P. und T. unter anderem Bedrohung, Brandstiftung sowie Beihilfe dazu vor. Die Generalstaatsanwaltschaft nimmt an, dass die Täter Menschen einschüchtern wollten, die antifaschistisch aktiv sind. P. war früher AfD-Politiker und T. bei der NPD, nun soll er beim »Dritten Weg« aktiv sein.

Am Montag geht es in der Befragung der Zeugen sowohl um die Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar als auch um potenzielle Verstrickungen zwischen den Sicherheitsbehörden, der Justiz und der rechtsextremen Szene. Medienberichten zufolge soll ein Polizeibeamter, der in einem regelmäßig von den Anschlägen betroffenen Kiez wohnt, Dienstgeheimnisse in einer Chatgruppe mit Personen aus dem AfD-Kreisverband geteilt haben, in der sich auch einer der Hauptverdächtigen befunden haben soll.

Außerdem wurde der Staatsanwalt aus der ersten Verhandlung im Prozess abgezogen: Der Neonazi T. soll P. gesagt haben, dass dieser sich nicht sorgen müsse, der Staatsanwalt sei auf ihrer Seite. Medienberichten zufolge soll der Staatsanwalt der AfD nahestehen. Dass die damals zuständige Ermittlungsgruppe T. bereits ein Jahr vor der Tat vor dem Haus der Koçaks beobachtete, sagte am vergangenen Donnerstag einer der Ermittler aus. Bewiesen ist außerdem, dass ein Ermittler im »Neukölln-Komplex« außer Dienst mit einer Gruppe einen Geflüchteten aus rassistischen Motiven angriff und ihn schwer verletzte.

»Ich habe Angst, Opfer eines Racheakts zu werden.«

Ferat Koçak Zeuge im Neukölln-Komplex

Während seiner Befragung erzählt Ferat Koçak von den Folgen des Anschlags für ihn und seine Familie: Er habe nicht mehr arbeiten können, daraufhin seinen Job verloren, sei in Therapie und habe grundsätzlich Misstrauen in die Menschheit und Sicherheitsbehörden entwickelt. Seine Mutter habe lange nicht über die Februarnacht sprechen können und sei ungern draußen unterwegs gewesen. Sie soll einen Herzinfarkt erlitten haben. Koçak wirkt souverän während seiner Zeugenvernehmung – trotz Versuchen seitens der Verteidigung, infragezustellen, ob seine Partei sich gegen Antisemitismus engagiere.

Der Ort, an dem Koçak letztlich Schutz gefunden habe, sei die Öffentlichkeit gewesen: Durch Demonstrationen und Kundgebungen von solidarischen Menschen, durch Berichte in den Medien über die rechtsextremen Machenschaften in Neukölln. Außerdem erhofft er sich Aufklärung aus dem Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus, wie er »nd« sagt.

Ferat Koçak spricht von einer »Loose-Loose-Situation«: Bei einer Verurteilung der Nazis habe er Angst, Opfer eines Racheakts zu werden. Sollten sie nicht verurteilt werden, sorgt er sich, dass es Faschist*innen motiviere, weitere Anschläge zu verüben. Die Autoreifen Heinz Ostermanns wurden in der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober zerstochen. »Wir gehen davon aus, dass Ostermann vor seiner Aussage eingeschüchtert werden soll«, heißt es im Aufruf der Antifaschist*innen, die am Montag vor dem Landgericht protestieren.

Koçak fordert Aufklärung. »An der Gefährdungslage hat sich nichts geändert«, soll ihm das Landeskriminalamt in den laufenden Ermittlungen mitteilen. »Ich will wissen, was das heißt?«, fragt der Betroffene.

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