Pflegefinanzen in der Warteschleife

Barmer-Report zeigt die absehbar weiter steigenden Kosten der Pflegeversicherung auf

Wer nur Pflegegrad 1 hat, kostet die Kasse noch nicht viel Geld. Aber was bringt die Zukunft?
Wer nur Pflegegrad 1 hat, kostet die Kasse noch nicht viel Geld. Aber was bringt die Zukunft?

Es gilt in der Pflege- wie in der Gesundheitspolitik: Jahrelang verschleppte Reformen sind bei einer verkürzten Legislatur noch einmal besonders schmerzlich. Offenbar wird aber der Pflegebereich in einer Jahrzehnte andauernden bundesdeutschen Tradition gern als zu vernachlässigend eingeordnet. Zwar gibt es seit 1995 eine Pflegeversicherung als eigenständigen Zweig der Sozialversicherung. Sie wurde trotz vieler Warnungen immer als Teil-Kasko-Modell geführt. Die Reserven der Familien, die den größten Teil leisten, schienen unerschöpflich, professionelle Pflege nur im Ausnahmefall nötig.

Zwar wird ebenfalls schon lange über demografischen Wandel – die zunehmende Alterung der Gesellschaft – gesprochen. Aber das auch daraus resultierende Wachstum der Gruppe der Pflegebedürftigen verdrängt die Politik gern. Plötzlich potenzieren sich jedoch die Finanzierungsprobleme der sozialen Pflegeversicherung, scheint es. Aber diese Entwicklung war vorhersehbar und Wissenschaftler wie Heinz Rothgang wiesen regelmäßig darauf hin. Auch jetzt war der Ökonom wieder gefragt. Er ist an der Universität Bremen am Socium Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik tätig und erneut Studienautor des von der Krankenkasse Barmer herausgegebenen Pflegereports. Dieser Bericht wurde am Montag in Berlin vorgestellt.

Viele werden sich an die Überraschung des Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) erinnern, der im Frühjahr festgestellt haben wollte, dass viel mehr Menschen als gedacht eine pflegerische Versorgung bräuchten. Lauterbach sprach von einem »explosionsartigen« Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen im Vorjahr. Das wurde schon vor Monaten angezweifelt. Verantwortlich für den moderaten Anstieg sind neben der Demografie veränderte Rahmenbedingungen in der Systematik: Es gibt seit 2017 fünf Pflegegrade statt nur noch drei Pflegestufen. Mit dem neuen Pflegegrad 1 ist gesichert, dass Menschen mit demenziellen Erkrankungen früh Zugang zu Leistungen bekommen.

»Das war politisch so gewollt«, erinnert der Bremer Forscher und weist darauf hin, dass bei den niedrigen Pflegegraden 1 und 2 die stärkste Bewegung zu beobachten ist. Ersichtlich sei das aus Zahlen zur Erstbegutachtung. Bei Pflegegrad 1 steigt die Zahl seit 2017 kontinuierlich an, bei Pflegegrad 2 gab es seit 2017 nur geringe Schwankungen – außer einem deutlicheren Zuwachs um etwa 800 000 Personen 2023. Pflegegrad 3 zeigte sich in den letzten sechs Jahren relativ stabil. In den beiden höchsten Pflegegraden gab es sogar eine geringe Tendenz nach unten. Bei der Erstbegutachtung gibt es zudem seit 2021 einen kontinuierlichen Anstieg von Fällen, in denen keine Pflegebedürftigkeit festgestellt wurde.

Jedoch stieg in den vergangenen Jahren der Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung stärker als zuvor bekannt – von 3,81 Prozent 2017 auf 6,22 Prozent 2023. Zugleich wächst laut Rothgang auch die durchschnittliche Zeit in der Pflegebedürftigkeit. Über alle im Jahr 2023 Verstorbenen lag dieser Zeitraum bei drei Jahren, 2016 waren es noch 2,2 Jahre. Abgeglichen mit der prognostizierten Lebenserwartung wird die Zeit in Pflege aber für Menschen, die seit 2022 darauf angewiesen sind, auf deutlich über sieben Jahre ansteigen. Hier lassen sich Quellen für Kostenanstiege also finden, da es aber bei Pflegegrad 1 meist nur bei dem Bezug von Pflegegeld bleibt, erhöhen sich die Ausgaben trotz der doppelten durchschnittlichen Inanspruchnahme von Leistung der Kasse »nur« um die Hälfte.

Gestiegen sind aber auch die Personalkosten, nicht nur wegen der Entgelte, sondern auch wegen besserer Personalschlüssel. Auch die bisherige gestaffelte Deckelung der Eigenanteile, erst 2022 eingeführt, ist bereits wieder verpufft. Vor allem in den Pflegeheimen fallen sie stark ins Gewicht, weil sie deutlich höher als die durchschnittlichen Renten liegen. Eigentlich steht politisch an, die Eigenanteile dauerhaft effektiv zu begrenzen, meint auch Rothgang. Gelingt das nicht, dürfte für viele Bürger der Sinn der Pflegeversicherung schwinden.

Zwar hat die Bundesregierung kürzlich noch versucht, zumindest kurzfristig die absehbare Lücke bei den Finanzen der Pflegekassen noch einmal durch eine Beitragserhöhung um 0,2 Prozentpunkte Anfang 2025 aufzufangen. Realisiert werden soll das durch eine Regierungsverordnung, die aber im Bundestag oder im Bundesrat noch gestoppt werden könnte. Schon steckengeblieben in der Ampel-Auflösung ist ein Gesetz, in dem zuvor eine Erhöhung um 0,15 Prozentpunkte vorgesehen war.

Weder die eine noch die andere Lösung wäre von Dauer. Die große Pflegereform, die Lauterbach versprochen hatte, müsste sofort nach der Wahl kommen. Schnelle, wenn auch nur vorübergehende finanzielle Abhilfe wäre möglich, wenn die Pflegekassen endlich von den versicherungsfremden Leistungen befreit würden.

Barmer-Vorstand Straub wiederholte hier Forderungen, die schon lange auf der Tagesordnung stehen: »Die vorgestreckten Pandemiekosten in Höhe von fünf Milliarden Euro wären zurückzuzahlen. Die Pflegekassen müssten von der Ausbildungskostenumlage befreit werden, weil es sich um ein gesamtgesellschaftliches Anliegen handelt.« Hier wären laut Straub auch die Rentenversicherungsbeiträge von pflegenden Angehörigen zu nennen. Noch eine ältere Idee, nämlich von 2005, holt Rothgang hervor: Einen Lastenausgleich mit der privaten Pflegeversicherung, die bislang von einem besseren Risiko ihrer Versicherten profitiert. Aber auch dafür gilt: »Darum muss politisch gerungen werden.«

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