- Politik
- Interview mit Clara Mattei
»Austerität soll Druck ausüben«
Die Ökonomin Clara Mattei über neoliberale und »antifaschistische« Wirtschaftspolitik
Frau Mattei, Sie sagen, wir sollten Austerität nicht länger »als schlechte Wirtschaftspolitik« kritisieren. Sparpolitik sei kein neoliberaler Irrtum, sondern ein Instrument zur Disziplinierung der unteren Klassen. Was meinen Sie damit?
Man sollte das als Ökonomin immer vorwegschicken: Unsere Wirtschaftsordnung ist nicht etwas objektiv Gegebenes, sondern ein soziales Verhältnis, das auf der Unterwerfung der Mehrheit beruht. Selbst relativ gut bezahlte Angestellte arbeiten im Kapitalismus in großer Unfreiheit. Die Wirtschaftswissenschaften bemühen sich darum, das Ökonomische vom Sozialen zu trennen und als etwas Abstraktes erscheinen zu lassen. Trotzdem bleibt ihr wichtigstes Ziel, die Unterwerfung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Es müssen Bedingungen hergestellt werden, unter denen die Menschen keine Alternative haben, als arbeiten zu gehen. Es geht um die Bewahrung ökonomischen Zwangs.
Clara Mattei, Jahrgang 1988, ist Ökonomin und lehrt an der New School in New York. Ihr Buch »Capital Order. How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism« erregte im vergangenen Jahr große Aufmerksamkeit. Darin geht sie Parallelen zwischen der Wirtschaftspolitik liberaler Regierungen in Großbritannien und der faschistischen Regierung Italiens in den 1920er Jahren nach. Mattei leitet seit Kurzem das Center for Heterodox Economics an der Universität Tulsa in Oklahoma.
Und Sozialkürzungen oder höhere Leitzinsen, die Investitionen erschweren und damit die Arbeitslosigkeit nach oben treiben, verstärken diesen Zwang?
Genau. Man muss in diesem Zusammenhang auch betonen, dass es der Austeritätspolitik nicht um einen ausgeglichenen Staatshaushalt geht. Neoliberale Regierungen reduzieren regelmäßig die Reichensteuern und finanzieren teure Kriege, was die Staatsschulden nach oben treibt. Zudem ist Austeritätspolitik auch kostspielig: Sie drückt Wachstum und damit auch Profite. Aber das alles nimmt man in Kauf, solange die Austerität die soziale Ordnung stärkt, indem sie Druck aufbaut.
Trump hat die Staatsausgaben zwischen 2016 und 2020 um über 40 Prozent erhöht, Joe Biden 500 Milliarden US-Dollar für ein Infrastrukturpaket lockergemacht. Ihrer Meinung nach haben diese Regierungen aber dennoch eine Austeritätspolitik verfolgt?
Das hängt natürlich von der Definition von Austerität ab. Aber meiner Ansicht nach waren die Bidenomics absolut mit klassischer Austeritätspolitik vereinbar. Unter Biden wurden die während Corona eingeführten Maßnahmen zur Armutsbekämpfung wieder abgeschafft. Die absolute Armut von Kindern hat sich in nur einem Jahr verdoppelt, die Obdachlosigkeit ist um zwölf Prozent gestiegen. Die Demokraten haben ihre sozialen Versprechen nicht erfüllt, von den Infrastruktur-Ausgaben haben in erster Linie Konzerne und ihr Management profitiert. Gleichzeitig hat die Regierung Biden nichts unternommen, um die von Trump durchgesetzten Steuerkürzungen für Reiche, die den Spardruck der öffentlichen Hand ja erhöhen, wieder zurückzunehmen.
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Die Ökonomin Isabella Weber hat vorgeschlagen, die unteren Klassen durch staatliche Eingriffe vor einer Verarmung zu schützen, und unter anderem für Preiskontrollen plädiert. Sie verwendet dafür den Begriff der »antifaschistischen Wirtschaftspolitik«. Was halten Sie davon?
Vielleicht fange ich damit an, in welchen Punkten ich mit Weber einverstanden bin. Meiner Ansicht nach führt die Austeritätspolitik dazu, dass sich der Überlebenskampf der Menschen verschärft und sich die Mehrheit ohnmächtiger und schutzloser fühlt. In dieser Situation wählen viele die Rechte, obwohl diese die Austerität noch weiter verschärfen will. Warum? Weil die Austeritätspolitik Frustration und Individualisierung produziert, und genau das der Nährboden der Rechten ist. In dieser Hinsicht hat Isabella Weber recht: Wenn man den Kapitalismus zähmt, indem man beispielsweise die Lebensmittelpreise deckelt, mindert man auch die Verzweiflung. Und ich bin auch einverstanden mit dem Ansatz, dass wir über alternative wirtschaftspolitische Instrumente nachdenken sollten, die Regierungen in der Vergangenheit bereits erfolgreich eingesetzt haben.
Und wo sind Sie mit Isabella Weber nicht einverstanden?
Problematisch finde ich, dass der Begriff der »antifaschistischen Wirtschaftspolitik« so verstanden werden könnte, als stellten die liberalen Regierungen der sogenannten Mitte kein Problem dar. Meiner Ansicht nach sind Liberalismus und Faschismus keine Gegensätze, sondern ein Kontinuum. Wenn wir uns die 1920er Jahre anschauen, dann stellen wir fest, dass sich die Wirtschaftspolitik unter dem liberalen Regime in Großbritannien nicht wesentlich von der im italienischen Faschismus unterschied. Der Übergang zwischen Liberalismus und Faschismus war fließend. Wenn wir heute von »antifaschistischer Wirtschaftspolitik« sprechen, könnte das als Bekenntnis zu den bestehenden Verhältnissen verstanden werden. Und hier würde ich entschieden widersprechen: Wir müssen stattdessen klarmachen, dass wir, wenn wir den Autoritarismus stoppen wollen, von den Technokraten keine Lösung zu erwarten haben. Wir brauchen eine Politik, die es den Menschen ermöglicht, sich zu organisieren und eigene Ressourcen aufzubauen. Die Vorstellung, dass man die Ökonomie »den Experten überlassen sollte«, halte ich für absolut falsch.
Wären Preiskontrollen, wie Weber sie ins Gespräch gebracht hat, denn möglich?
Technisch natürlich. Und ihr Vorschlag weitet auch den Horizont dafür, dass unsere Gesellschaft andere Prioritäten setzen könnte. Aus diesem Grund waren die Austeritäts-Technokraten sehr besorgt wegen der Idee. Die technische Lösung der Preiskontrollen bricht mit dem Tabu, dass wir keine ökonomische Handlungsmacht mehr haben. Allerdings müsste man genau das ausführlicher diskutieren: Preiskontrollen im Kapitalismus sind kein neutraler Akt, sondern sehr politische Interventionen, die in größere Konflikte münden würden. Das müsste man problematisieren.
Was wären Ihrer Meinung nach Eckpfeiler einer linken Wirtschaftspolitik?
Sie müsste die sozialen Kämpfe in den Mittelpunkt stellen, Menschen ermächtigen und ihnen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dabei denke ich an Auseinandersetzungen wie beim italienischen Automobilzulieferer GKN, wo die Belegschaft vor vier Jahren den Betrieb besetzt hat und jetzt versucht, auf die Produktion von Lastenrädern umzustellen.
Eine keynesianische Wirtschaftspolitik leistet das nicht?
Keynesianische Wirtschaftspolitik ist nie von Kämpfen ausgegangen, sondern war immer top-down. Sehen Sie, die Widersprüche in unserem System spitzen sich spürbar zu. In der Ukraine beispielsweise wird nach Ende des Krieges ein Ausverkauf der Reichtümer des Landes an Konzerne stattfinden – zulasten der Bevölkerung. Wenn wir dem entgegenwirken wollen, brauchen wir politische Kämpfe, die dafür sorgen, dass sich die Gesellschaft andere Prioritäten als den Profit setzt. Solche Kämpfe aber können nur von Betroffenen ausgehen. Die politischen und ökonomischen Eliten – und hierzu gehören auch etablierte Parteien der Linken – haben zu viel Interesse an der Beibehaltung des Status quo.
In Ihrem Buch »Capital Order« sagen Sie, dass die Austeritätspolitik der 1920er Jahre eine Antwort auf die Rätebewegung 1919 gewesen sei. Welche Bedeutung besitzt der Begriff der Wirtschaftsdemokratie für Sie?
Anders als »Sozialismus« ist der Begriff der »Wirtschaftsdemokratie« nicht diskreditiert worden. Es ist ein immer noch kraftvolles Konzept. Und ich denke, dass es beim antikapitalistischen Kampf auch genau darum geht: verloren gegangene Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Wenn wir uns umschauen, stellen wir fest, dass wirtschaftsdemokratische Ansätze an vielen Orten und in sehr unterschiedlichen Formen existieren. Das Problem ist, dass sie selten Sichtbarkeit erlangen. Meiner Ansicht nach muss es darum gehen, diese Netzwerke zusammenzubringen und ihnen Ressourcen zu verschaffen.
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