Profitabel, abgeschottet, stabil

Im Zentrum des rechten Projekts steht die Grenzschließung. Aber warum eigentlich?

Kämpfe um Bewegungsfreiheit beginnen mit praktischer Solidarität – selbstorganisierte Seenotrettung im Mittelmeer
Kämpfe um Bewegungsfreiheit beginnen mit praktischer Solidarität – selbstorganisierte Seenotrettung im Mittelmeer

Einen »erstaunlichen Rückgang der illegalen Migration in Europa« vermeldet der britische Economist. In den ersten acht Monaten des Jahres 2025 seien mit 112 000 Personen nur noch halb so viele Menschen »illegal« in die EU eingewandert wie im vergleichbaren Zeitraum 2023. Bundeskanzler Friedrich Merz wollte für die Entwicklung gar persönlich verantwortlich sein. Auf dem Kurznachrichtendienst X verkündete er selbstgewiss: »Wir haben die Migrationswende eingeleitet: Die Asylantragszahlen sinken.«

Allerdings haben die fallenden Zahlen mit dem Regierungswechsel und den von Innenminister Dobrindt angewiesenen Zurückweisungen an der deutschen Grenze wenig zu tun. Denn die Entwicklung reicht deutlich weiter zurück. »Entscheidend sind die EU-Abkommen mit den nordafrikanischen Ländern und der Türkei«, erklärt der Kasseler Migrationsforscher Fabian Georgi. Durch milliardenschwere Militär- und Polizeihilfen für autoritäre Regierungen und libysche Milizen seien die europäischen Außengrenzen weit nach Afrika vorverlagert worden. »Außerdem werden die Grenzräume selbst immer brutaler ausgerüstet – zum Beispiel die Anlagen um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla oder der mehrere Hundert Kilometer lange Grenzstreifen zwischen Belarus und Polen«, so Georgi.

Bemerkenswerterweise sei diese Abschottungspolitik nicht nur von der extremen Rechten vorangetrieben worden. »Die Abkommen mit den nordafrikanischen Staaten wurden von der radikalisierten neoliberalen Mitte ausgehandelt – also von Parteien, die teilweise sogar als mitte-links gelten«, erläutert der Kasseler Forscher. »Die extreme Rechte ist allerdings insofern wichtig, als sie diese Mitte vor sich hertreibt.«

Hinsichtlich der Frage, ob die Migrationszahlen dauerhaft niedrig bleiben, ist Georgi skeptisch. »Die Lage wird sich sehr schnell ändern, wenn die Bewegung der Migration neue Routen findet oder die Länder, mit denen die EU ihre Abkommen geschlossen hat, instabil werden.« Zudem erhöhe die Klimakrise den Migrationsdruck dramatisch. Mit einer immer brutaleren Abschottung scheint sich die EU darauf systematisch vorzubereiten.

Festungskapitalismus

Verschieben sich die Ziele der europäischen Grenzpolitik? Kritische Migrationsforscher*innen haben in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass die Grenzpolitik keineswegs auf eine vollständige Abschottung abziele. Gerade in der Landwirtschaft, der Pflege, im Bausektor oder in der Logistik ist die preiswerte migrantische Arbeitskraft unverzichtbar. Man will durchaus, dass es Migrant*innen in die Industriestaaten schaffen. Das Grenzregime sorgt eher dafür, dass sie zu Niedriglöhnen arbeiten müssen und sich nicht organisieren können.

»Ein System globaler Apartheid, in dem Vertriebene rassistisch markiert und als Überflüssige aussortiert werden.«

Harsha Walia  Migrationsforscherin

Die kanadisch-südasiatische Forscherin und Aktivistin Harsha Walia schreibt vor diesem Hintergrund: »Grenzen sind keine festgelegten, statischen Linien. Es sind produktive Regime, die durch Herrschaftsbeziehungen hervorgebracht werden und diese gleichzeitig produzieren.« Grenzpolitik, so Walia, dürfe deshalb auch nicht als humanitäres Problem diskutiert werden, sondern als Herrschaftsinstrument in globalen Klassenauseinandersetzungen.

Dass Linke Migrationspolitik im Zusammenhang mit Klassenkonflikten analysieren müssen, meint auch Fabian Georgi. Selbstverständlich ziele eine restriktive Grenzpolitik immer auch auf die Ausbeutbarkeit von Arbeitskräften ab. »Der Mangel von kurzfristig oder speziell ausbeutbaren Arbeitskräften lässt sich mit Migration lösen«, erläutert der Kasseler Forscher. »Um Löhne niedrig zu halten, ist es funktional, diese Arbeitskräfte zu entrechten. Insofern haben wir es mit einem komplexen System des Migrations-Managements zu tun, das auf abgestufter Entrechtung beruht.«

Die Gruppe illegalisierter Arbeitskräfte, die unter sklavenähnlichen Bedingungen – beispielsweise in der häuslichen Altenpflege oder in der südeuropäischen Landwirtschaft – tätig sind, sei zahlenmäßig nicht besonders groß, gesteht Georgi zu. »Einer Studie zufolge sind es in zwölf EU-Ländern zwischen 2,6 und 3,2 Millionen Menschen. In der gesamten EU also vielleicht vier Millionen Menschen. Gemessen an der Gesamtzahl von Lohnabhängigen ist das nicht besonders relevant.« Aber in bestimmten Sektoren und Regionen spielten illegalisierte Beschäftigte eben doch eine zentrale Rolle.

In den USA zeigt sich im Augenblick, dass eine scharfe Abschottungspolitik in Widerspruch zu Unternehmerinteressen geraten kann. Dort beschweren sich Farmer mittlerweile darüber, dass ihnen Arbeitskräfte auf den Feldern fehlen. Für Georgi spricht das allerdings nicht grundsätzlich gegen die Funktionalität der Abschottung: »Natürlich kann eine rechte Regierung gegen die Interessen mancher Kapitalfraktionen, zum Beispiel in der Landwirtschaft, handeln. Aber das bedeutet nicht, dass Trumps Grenzpolitik dem Kapitalismus widersprechen würde.«

Für Georgi hat die Abschottungspolitik in den USA auch etwas von einem »rassistischen Überschuss«, hänge also mit einer Überlegenheitsideologie zusammen, die ökonomisch nicht unmittelbar rational sei. »Aber Migration hat immer auch eine Klassendimension. Teile der globalen Arbeiterklasse kämpfen um ihre Teilhabe am Reichtum. Und das fordert die bestehende Ordnung natürlich heraus, die die Welt in unterschiedliche Zonen der Ausbeutung aufteilt.«

Bewegungsfreiheit

Den sichtbarsten Widerstand gegen den Festungskapitalismus leisteten in den vergangenen Jahren die Initiativen zur Seenotrettung, die wie Sea-Watch selbstorganisiert Geflüchtete aus dem Mittelmeer bargen und bei denen Freiwillige mitarbeiten können.
Ähnliche Initiativen sind zuletzt auch an der Grenze zu Belarus entstanden, so etwa die polnischen No-Border-Teams, die trotz massiver Kriminalisierung durch den Staat Menschen nach dem Grenzübertritt unterstützen.
Die Nichtregierungsorganisation Medico International hat mit dem »Fonds für Bewegungsfreiheit« auch eine Kampagne zur Unterstützung von Menschen aufgelegt, die durch die Grenzpolitik kriminalisiert werden. Aus dem Fonds werden Prozess- und Anwaltskosten sowie Öffentlichkeitsarbeit finanziert. Denn: »In Griechenland etwa stellen Geflüchtete heute die zweitgrößte Gruppe der Gefängnisinsassen. Die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht ist europaweit auf dem Vormarsch.«

Migrationsbekämpfung sei in diesem Sinne ein Werkzeug, das für eine Ausdifferenzierung der unteren Klassen sorge. Grenzen würden die Ausbeutung nicht nur räumlich und territorial staffeln, sondern auch die Linie vorgeben, entlang der sich die unteren Klassen in den jeweiligen Staaten – in Einheimische, legale und illegale Migrant*innen – spalten lassen. Auf diese Weise produziert die Migrationspolitik den innergesellschaftlichen Rassismus mit. »Für die Aufrechterhaltung dieser spezifischen imperialistischen Form von Kapitalismus ist es daher wichtig, Grenzen auszubauen«, so Georgi.

In Debatten der migrantischen Linken ist deshalb immer häufiger von »Grenzabolitionismus« die Rede – also einer Politik, die die Grenze als Herrschaftsinstrument versteht und bekämpft. Harsha Walia etwa spricht von einem »System globaler Apartheid, in dem Vertriebene rassistisch markiert und als Überflüssige aussortiert werden«.

Ähnlich formuliert es auch die Soziologin und No-Border-Aktivistin Nandita Sharma. Auch sie plädiert für eine materialistische Kritik der Grenze. In der Geschichte des Kapitalismus sei es immer auch um die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Beherrschten gegangen. Einerseits hätten imperiale Staaten Menschen als Arbeitskräfte verschleppt oder von ihrem Land vertrieben, andererseits hätten sie diesen Menschen entlang rassistischer Kategorien die Staatsbürgerschaft verweigert oder die Einwanderung verboten. Eine zentrale Grundlage dieser Politik sozialer Spaltung, so Sharma, sei die Unterscheidung zwischen »Einheimischen« und »Migrant*innen«. Das globale Klassenverhältnis drückt sich also nicht zuletzt in der Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Dass das Recht auf Bewegungsfreiheit eine viel zentralere Rolle in der Linken spielen müsste, meint auch Georgi: »Der Kapitalismus nimmt zunehmend dystopische Gestalt an. Und dieser Festungskapitalismus stabilisiert und reguliert sich über sein Grenzregime. Wenn wir zu einer anderen Gesellschaft kommen wollen, ist es in unserem Interesse, dieses Regime zu bekämpfen.«

Darüber hinaus, so Georgi, stelle sich aber auch die Frage, wie man der globalen Krise begegnen wolle. Die Linke müsse eine solidarische und radikaldemokratische Antwort auf die soziale und ökologische »Vielfachkrise« formulieren. »Das kann nur von Bewegungen und Gewerkschaften im Süden und Norden gemeinsam erreicht werden. Und zu dieser Zusammenarbeit wird es nicht kommen, wenn wir die Politik der Grenzabschottung unterstützen.«

Während die politische Rechte entschlossen an ihrem Projekt eines Festungskapitalismus arbeitet, müsse es der Linken um die Verteidigung der Bewegungsfreiheit gehen. »Die ist Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu solidarischen Kämpfen kommen kann«, so Georgi. In der deutschen Debatte wird oft zwischen den Rechten von Migrant*innen und Klasseninteressen unterschieden. Dabei gerät aus dem Blick, wie sehr die Abschottungspolitik ein Projekt ökonomischer Eliten ist, das – nach außen und innen – spalten soll.

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.