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Ohne Papiere in der Stadt der Millionäre
Project Shelter, ein migrantischer Selbstvertretungsverein Obdachloser, feiert zehnjähriges Bestehen in Frankfurt am Main
Im Jahr 2016 kommt Osman S. in Frankfurt am Main an. Er hat damals keinen Job, keine Unterkunft und eine Aufenthaltserlaubnis in einem anderen EU-Land. Schnell merkt er: Es fehlt an einer städtischen Struktur, die ihm hilft, sich neu aufzustellen. Also wird er selbst aktiv bei Project Shelter, erzählt er. In der Initiative setzen sich obdachlose Migrant*innen und Geflüchtete seit zehn Jahren für ihre Rechte ein, gemeinsam mit solidarischen Personen. Sie engagieren sich für ein selbstorganisiertes Zentrum, versuchen das Thema Obdachlosigkeit sichtbar zu machen und unterstützen obdachlose Menschen im Alltag, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
Frankfurt ist eine Stadt der Gegensätze. Laut dem britischen Investmentberater Henley & Partners belegt die Stadt den 16. Platz auf der globalen Liste der Städte mit den meisten Millionären und Milliardären. Auf jede achte in der Stadt lebende Person mit einem deutschen Durchschnittsgehalt kommt demnach ein Millionär. Zugleich werden in Frankfurts U-Bahnhöfen nachts Matratzen ausgelegt, um Schlafplätze für Wohnungslose ohne Aufenthaltsstatus zu schaffen.
In der Stadt gibt es in etwa 300 obdachlose- und über 4000 wohnungslose Menschen. Wohnungslos sind jene, die ohne festen Wohnsitz in städtischen Einrichtungen oder bei Bekannten leben. Laut dem diese Woche veröffentlichten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung waren 2024 mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland wohnungslos. Menschen in Flüchtlingsunterkünften, in Frauenhäusern oder in Haftanstalten werden in offiziellen Statistiken nicht mitgezählt. Die Dunkelziffer dürfte also höher sein.
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Versucht man, so wie Osman S., in Frankfurt Fuß zu fassen, wird einem das nicht leicht gemacht, erzählt er. Gesetze wie die »Vorrangprüfung« stehen im Weg. Es besagt, dass im Falle einer Jobzusage einer zugewanderten Person erst untersucht werden muss, ob die Stelle auch mit einer in Deutschland als arbeitssuchend gemeldeten Person besetzt werden kann. »Die Vorrangprüfung gilt als bestanden, wenn der Arbeitgeber gut begründen kann, dass es unter den bevorrechtigten Arbeitslosen keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber gibt«, so das Glossar »Make it in Germany« der Bundesregierung.
Osman S. beschreibt die Situation als Teufelskreis: Befristete Aufenthaltstitel erschweren die Arbeitssuche, Arbeitslosigkeit verunmöglicht die Wohnungssuche, was wiederum einer permanenten Aufenthaltserlaubnis im Weg steht. Umgekehrt ist der Aufenthaltstitel an Arbeitsverträge geknüpft und drängt Betroffene in prekäre Verhältnisse. »Wenn du krank bist, gehst du nicht in Krankenstand, aus Angst, gekündigt zu werden und dein Visum zu verlieren«, sagt er. In Obdachlosenunterkünften können Personen ohne Sozialversicherung in Frankfurt höchstens drei Tage bleiben.
Für Migrant*innen und Geflüchtete sei es deshalb besonders schwierig, der Obdachlosigkeit zu entkommen, sagt Tim Herbold vom Forschungsprojekt »Contestations of ›the Social‹«, zu Deutsch: Auseinandersetzungen um ›das Soziale‹. Herbold untersucht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sozialpolitische Auswirkungen von Initiativen prekär Beschäftigter und erwerbsloser Personen. »Die Vorrangprüfung spielt Arbeiter*innen und Migrant*innen gegeneinander aus«, befindet er. Ähnlich sei es mit sozialen Problemen in der Stadt.
Osman S. lebt inzwischen gemeinsam mit 40 bis 50 anderen Personen in einem aus einer ihrer Besetzungen hervorgegangenen Wohnprojekt. Bis Sommer 2025 duldet die Stadt das, dann soll das Gebäude einem Schulstandort weichen. Laut Koalitionsvertrag der Frankfurter Stadtregierung aus SPD, Grünen, FDP und Volt soll die Initiative ein dauerhaftes Gebäude erhalten; die Pläne des Baudezernats dazu sind bisher unklar. Dass migrantische Obdachlosigkeit in Frankfurt inzwischen überhaupt diskutiert wird, sei aber Initiativen wie Project Shelter zu verdanken, sagt Osman S.
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