»Der Gegner wird aggressiver und cleverer«

Die Unternehmen verlangen längere Arbeitszeiten, die Union will Sozialkürzungen. Interview mit Anja Voigt (ver.di) und Michael Ehrhardt (IG Metall)

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 15 Min.
Für ver.di erweist sich die Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst immer wieder als enormes Hindernis für die eigene Mobilisierung.
Für ver.di erweist sich die Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst immer wieder als enormes Hindernis für die eigene Mobilisierung.
Streikkonferenz

Vom 2. bis 4. Mai findet in Berlin die »Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung: Gegenmacht im Gegenwind. Gewerkschaftliche Kämpfe als Antwort auf Rechtsruck, Transformation und Kürzungspolitik« statt. Die Tagung, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wird und als »Streikkonferenz« bekannt ist, gilt als das wichtigste Basistreffen von Betriebsräten, Vertrauensleuten und Gewerkschaftsaktiven in Deutschland. Für die 2000 Teilnehmenden ist es ein Ort zum Austausch über Organisierungsmethoden, die Demokratisierung der Gewerkschaften und Streikerfahrungen. Einige der auf der Konferenz diskutierten Fragen haben wir uns von den Gewerkschafter*innen Anja Voigt (ver.di) und Michael Ehrhardt (IG Metall) erklären lassen.

Sie sind beide nicht nur Gewerkschafter*innen, sondern auch politisch Aktive, die die Gewerkschaften selbst verändern wollen. Was halten Sie für die großen Herausforderungen Ihrer Organisationen? In welche Richtung müssten sich die Gewerkschaften Ihrer Meinung nach entwickeln?

Anja Voigt: Ich bin Mitglied der Bundestarifkommission des öffentlichen Dienstes, und in der Tarifauseinandersetzung, die wir gerade hatten, konnte man spüren, dass die Arbeitgeber mittlerweile deutlich härter aufgestellt sind. Auch der politische Wind ist schärfer geworden: Immer wieder wird damit gedroht, das Streikrecht im öffentlichen Dienst einzuschränken. Wenn wir hier nicht unter die Räder geraten wollen, müssen wir uns vom sozialpartnerschaftlichen Modell der Vergangenheit wegbewegen, kampfstärker werden und entschlossener in Auseinandersetzungen gehen. Das Ergebnis der jüngsten Tarifrunde im öffentlichen Dienst ist sehr schwierig. Und das liegt meiner Ansicht nach nicht zuletzt daran, dass uns in vielen Bereichen Mobilisierungskraft gefehlt hat. In einigen Betrieben wären wir zu Erzwingungsstreiks in der Lage gewesen. Aber insgesamt war da zu wenig. Kampfstärke aber fällt nicht vom Himmel. Die müssen wir systematisch aufbauen.

Michael Erhardt: Meine größte Sorge bei den Industriegewerkschaften ist, dass wir unsere industrielle Basis verlieren. Ganze Standorte stehen zur Disposition. Dazu kommt der demografische Wandel: Viele Gewerkschafter gehen demnächst in Rente. Beides zusammen hat erhebliche Konsequenzen für uns. Das, was Anja für den öffentlichen Dienst beschrieben hat, erleben wir auch bei uns. Die Arbeitgeber erhöhen den Druck, und dem kann man nicht begegnen, indem man selbst defensiver auftritt. Wenn wir handlungsfähig bleiben wollen, müssen wir uns Erfolge organisieren. Nur das macht Hoffnung für kommende Tarifrunden. Dasselbe gilt natürlich auch für die politischen Auseinandersetzungen. Durch das, was sich in Berlin mit der neuen Regierung anbahnt, wird es härter. Wir brauchen Kampfkraft.

Interview

Anja Voigt ist Intensivpflegekraft bei Vivantes und Teil der Berliner Krankenhausbewegung, eines Zusammenschlusses von Beschäftigten im Gesundheitsbereich. Sie ist ehrenamtliche Gewerkschafterin bei ver.di und Mitglied der Bundestarifkommission des öffentlichen Dienstes.
Michael Erhardt ist Erster Bevollmächtigter bei der IG Metall Frankfurt / Main und engagiert sich seit vielen Jahren in sozialen Bewegungen, Bündnissen gegen rechts und Initiativen für Wirtschaftsdemokratie.

Gewerkschaftslinke haben immer für eine Rüstungskonversion gestritten – für den Umbau von Rüstungs- in Zivilproduktion. Jetzt findet der umgekehrte Prozess statt: Zivile Fertigung wird auf Rüstungsgüter umgestellt. Wie sollte die IG Metall darauf reagieren?

Erhardt: Zunächst einmal müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die steigenden Rüstungsausgaben von unserer Mitgliedschaft mehrheitlich mitgetragen werden. Diejenigen, die wie wir eine Rüstungskonversion fordern, sind in den Gewerkschaften in der Minderheit. Es gibt einen Konsens darüber, dass Kriege beendet werden müssen und Waffenstillstand eine Voraussetzung dafür ist. Aber damit hört es auch schon auf. Ich wünsche mir eine klarere Position der Gewerkschaften gegen die Aufrüstung. Als Linke müssen wir für die Überzeugung werben, dass Aufrüstung kein Mittel zur Friedenssicherung sein kann.

»In unseren Arbeitskämpfen wird nicht top-down entschieden, sondern die Mitglieder selbst legen fest, welche Forderungen aufgestellt werden und was unsere roten Linien sind.«

Anja Voigt ver.di

Frau Voigt, Sie sind in der Berliner Krankenhausbewegung (BKB) aktiv. Die Krankenhausstreiks der letzten zehn Jahre haben ver.di sehr verändert: Sie haben in Bereichen gestreikt, die als kaum organisierbar galten, und Sie haben Ihre Arbeitskämpfe demokratisiert. Wie haben Sie das geschafft?

Voigt: Die Berliner Krankenhausbewegung zeigt vor allem, dass wir gewinnen können – wenn wir uns entsprechend aufstellen. Entscheidend für unseren Erfolg war die Transparenz. In unseren Arbeitskämpfen wird nicht top-down, von oben nach unten entschieden. Sondern die Mitglieder selbst legen fest, welche Forderungen aufgestellt werden, was rote Linien sind und welche Verhandlungsergebnisse angenommen werden sollen. Die Entscheidungsprozesse sind bei uns wirklich auf breite Schultern gelegt worden. Aus allen Bereichen und Stationen werden Leute eingebunden und die Forderungen über »Teamdelegierte« dann nach oben getragen beziehungsweise die Verhandlungsergebnisse mit der Basis rückgekoppelt. Dieser Demokratisierungsprozess sorgt für ein ganz anderes Verständnis für schwierige Ergebnisse. Die Leute verstehen, was durchsetzbar ist und was nicht. Eine Basis, die einmal auf diese Weise beteiligt worden ist, wird nicht mehr akzeptieren, dass hinter verschlossen Türen verhandelt wird.

Aber in den Krankenhausstreiks ging es um einzelne Kliniken. In der Tarifrunde öffentlicher Dienst ist für 2,7 Millionen Beschäftigte verhandelt worden. Ist Partizipation da überhaupt möglich?

Voigt: Es ist natürlich schwieriger, weil viel mehr Betriebe und alle Bundesländer beteiligt sind. Aber wir haben es auch in der aktuellen Tarifrunde in Berlin mit einem Rückkopplungsprojekt geschafft, über »Team-« oder »Streikdelegierte« nach jeder Verhandlungsrunde den Stand an die Basis zu vermitteln. Ich denke, das muss ein Vorbild für kommende Auseinandersetzungen sein. Wenn wir in Zukunft härtere Konflikte führen müssen, brauchen wir mehr Kraft an der Basis.

Sie haben erwähnt, dass Sie das Tarifergebnis im öffentlichen Dienst für schwierig halten. Ein großes Problem ist sicherlich, dass es die Verlängerung von Arbeitszeiten ermöglicht. Dabei ist gerade die Erschöpfung durch die Verdichtung der Arbeit und die Verlängerung der Arbeitszeiten ein zentrales Problem für die Beschäftigten. Warum hat ver.di das akzeptiert?

Voigt: Die Bundestarifkomission hat zwar eine Zustimmungsempfehlung ausgesprochen, aber mit Gegenstimmen: 37 von 99 Mitgliedern haben dagegen votiert. In dem Zusammenhang muss man wissen, dass viele in der Kommission nicht aus kampfstarken Bereichen kommen und noch nie eine erfolgreiche Auseinandersetzung geführt haben. Die haben natürlich Respekt, wenn sie das Wort »Erzwingungsstreik« hören. Ich denke, für kommende Konflikte müssen wir uns einfach besser vorbereiten. Wir müssen dafür sorgen, dass wir erzwingungsstreikfähig werden. Die Union will Arbeitszeiten erhöhen, das Streikrecht einschränken, die Arbeit weiter intensiveren. Das Geld soll in Rüstung statt in den öffentlichen Dienst gesteckt werden. Dagegen müssen wir mobil machen.

Erhardt: Im Prinzip gebe ich Anja natürlich recht. Aber ich finde, das, was ver.di in den Tarifauseinandersetzungen an Mobilisierung hingekriegt hat, war schon ganz beachtlich. Das Ergebnis beim Geld ist nicht schlecht. Zum Beispiel habt ihr zweimal 75 Euro für die Auszubildenden rausgeholt. Wir haben für ein ähnliches Resultat in der letzten Tarifrunde ohne Ende ballern müssen.

Die IG Metall hat gerade Aktionstage zur Verteidigung von Industriearbeitsplätzen organisiert. Immerhin 80 000 Menschen haben sich daran beteiligt. Waren Sie zufrieden mit den Inhalten der Aktionstage und der Beteiligung?

Erhardt: Das war schon ein beachtlicher Erfolg – für den wir allerdings auch einigen Aufwand betrieben haben. Die Verteidigung der Industrie in den Mittelpunkt zu stellen, halte ich für völlig richtig. Verglichen mit Frankreich oder den USA ist der Prozentanteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung bei uns mehr als doppelt so groß. Wir haben also Einiges zu verlieren. Die zweite zentrale Forderung unserer Aktionstage war die Verteidigung der Sozialpolitik. Auch das war inhaltlich völlig richtig. Allerdings denke ich, dass wir jetzt unsere wirtschaftsdemokratischen Forderungen in die Betriebe tragen müssen.

Was für Forderungen sind das?

Erhardt: Es geht um die Entscheidung, was wo und wie produziert wird. In Fabriken, die heute Verbrennermotoren herstellen oder Stahl mit Koks kochen, ist völlig klar, dass die Produktion irgendwann demnächst eingestellt wird. Hier muss man planen, was stattdessen produziert werden soll. Die Unternehmer sind der Ansicht, dass uns das einen Scheißdreck angeht. Viele sagen: »Den letzten Verbrenner bauen wir. Der Rest interessiert uns nicht mehr.« Sie wollen weitermachen, solang es geht, und den Laden dann dichtmachen – so ähnlich wie bei Ford in Saarlouis, wo man die Produktion jetzt zum Großteil abwickelt. Die Frage, welche Produkte hergestellt und welche Dienstleistungen angeboten werden sollen, dürfen wir nicht den Unternehmern überlassen. Es ist eine Frage, die die Belegschaften mit entscheiden müssen.

Ist die Verteidigung von Industriearbeitsplätzen für Gewerkschaftslinke nicht ein schwieriges Thema? Man läuft ja leicht Gefahr, sich in einem Standortdiskurs zu verheddern. Herr Ehrhardt, Sie haben sich immer sehr für eine internationalistische Gewerkschaftspolitik eingesetzt – ist das für Sie ein Widerspruch?

Erhardt: Das Problem sehe ich natürlich, aber ich denke, das war schon mal schlimmer. Meiner Einschätzung nach ist den Leuten sehr klar, dass sie sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Ob das immer und überall gelingt, kann ich nicht beurteilen. Wenn Ford angekündigt, dass von den beiden Standorten Saarlouis und Valencia einer dicht gemacht wird, erzeugt das unweigerlich eine Konkurrenzsituation. Aber ich erlebe gerade keinen ausgeprägten Standortnationalismus.

Ist es bei ver.di eigentlich einfacher, als Gewerkschaftslinke Politik zu machen? Immerhin scheint doch die Konfliktlage im öffentlichen Dienst eindeutiger: Öffentliche Infrastrukturen sind unterfinanziert, der Ausbau von Pflege- und Gesundheitswesen ist Grundbestandteil progressiver Politik. Bei der Verteidigung von Industriearbeitsplätzen muss ein Gewerkschaftslinker dagegen immer auch für einen Umbau werben – für die Transformation der Automobilindustrie zum Beispiel.

Voigt: Dass die Fronten bei uns klarer sind, stimmt natürlich. Andererseits hören wir bei uns aber auch oft das Argument: »Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, dürfen wir es jetzt nicht überreizen.« Diese Denke, dass »der Staat von den Unternehmen finanziert wird«, ist auch in unserer Mitgliedschaft weit verbreitet. Bei ver.di gibt es zwei Lager, würde ich sagen. Einerseits die Leute, die meinen, dass es nicht so schlimm wird, wenn wir still halten. Und andererseits diejenigen, die wie ich aus erfolgreichen Auseinandersetzungen kommen und dafür plädieren, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern zu kämpfen. Es bleibt spannend, in welche Richtung sich das entwickelt.

Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst kam durch ein Schlichtungsverfahren zustande. Gewerkschaftslinke fordern schon lange, die Vereinbarung aufzukündigen, die Schlichtungsverfahren ermöglicht. Warum?

Erhardt: Also ich möchte schon mal vorwegschicken, wie froh ich bin, dass wir in der Metallindustrie keine Schlichtungsverfahren kennen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man für einen Arbeitskampf mobilisieren soll, wenn eine Schlichtung dazwischen geschoben wird. Etwas Vergleichbares gibt es bei uns nur bei Auseinandersetzungen um Sozialtarifverträge – da gibt es oft parallel so genannte Einigungsstellen. Aber in den großen Auseinandersetzungen um Flächen- und Branchentarifen zählt für uns nur die Frage, wie mobilisierungsfähig wir sind. Da müssen wir feststellen, in wie vielen Betrieben wir einen Erzwingungsstreik durchführen können.

Voigt: Schlichtungsverfahren stellen ein enormes Problem dar, weil sie die Mobilisierung der Mitgliederschaft unterbrechen. Der Konflikt wird auf Eis gelegt, man verhandelt hinter verschlossenen Türen. Keiner weiß, was drinnen gerade besprochen wird. Nach so einer Unterbrechung ist es enorm schwierig, die Leute wieder auf die Straße zu kriegen. In Berlin haben wir deshalb schon bei der letzten Runde im öffentlichen Dienst gefordert, dass die Schlichtung weg muss. Sie bremst uns jedes Mal aus und es ist schwer, dann wieder Fahrt aufzunehmen.

So weit ich weiß, könnten beide Seiten – Arbeitgeber und Gewerkschaften – zum Quartalsende einseitig aus der Schlichtungsvereinbarung aussteigen.

Voigt: Ja, wenn wir wollten, könnten wir das. Aber wie gesagt: Die Mehrheit der Bundestarifkommission sieht das bislang anders, auch weil sie nicht von unserer Stärke überzeugt ist.

Ein wesentliches Instrument, um die eigene Durchsetzungsmacht zu vergrößern, ist das gewerkschaftliche Organizing. Kaum jemand hat diesen Ansatz so populär gemacht wie die US-Amerikanerin Jane McAlevey, die 2024 zu früh verstorben ist. Frau Voigt, Sie haben geschrieben, dass McAleveys Methoden für Sie sehr wichtig waren. Worum geht es da?

Voigt: Als ich zum ersten Mal von McAleveys Ansatz gehört habe, war ich durchaus skeptisch. Ich habe dann aber in meinem Betrieb erlebt, wie erfolgreich ihre Methoden tatsächlich sind. Es geht darum, Arbeitskämpfe sehr strukturiert anzugehen: Aufstellen eines Plans, Erstellen eines »Mapping«, um zu wissen, wer die Personen sind, die als Multiplikatoren gewonnen werden müssen. Organisierung von »Stärketests«, in denen man sieht, wie stark man zu jedem Zeitpunkt ist … So wird nach und nach Kampfkraft aufgebaut. Im Kern geht es darum, die Arbeiter*innen dazu zu bringen, dass sie ihren Kampf selbst führen. Wir haben inzwischen in ganz unterschiedlichen Häusern damit gearbeitet. In Nordrhein-Westfalen haben wir einen sechzigtägigen Erzwingungsstreik in den Uninkliniken gewonnen, in der medizinischen Hochschule Hannover haben wir im Oktober 2024 eine Entlastung durchgesetzt. Aber Organizing ist nicht nur erfolgreich, sondern auch nachhaltig. Früher sind Leute nach Tarifrunden oft schnell wieder ausgetreten. Wenn sie durch Organizing aber aktiver eingebunden werden, bleiben sie auch dauerhaft.

Stimmt der Eindruck, dass Organizing-Methoden in der IG Metall lange etwas skeptischer betrachtet worden sind? Ich meine, die »Erschließung« nicht organisierter Betriebe, also die Gründung eines ersten Betriebsrats, gehörte auch für die IGM immer schon zum Kerngeschäft. Aber hatte das nicht einen etwas anderen Schwerpunkt?

Erhardt: Nein, das würde ich nicht sagen. Wir haben die Praxis des Organizing in den letzten 15 Jahren auch in der IG Metall in unsere Standardarbeit integriert. Der entscheidende Unterschied zu ver.di ist, dass die meisten unserer Organizer*innen direkt bei der IG Metall arbeiten. Vor zehn Jahren haben wir etwa 120 Leute angestellt, die überwiegend in den Geschäftsstellen als spezialisierte Gewerkschaftssekretäre tätig sind. Abgesehen davon jedoch geht es auch bei uns darum, konfliktfähig zu werden. In der Frage, wie das gelingen kann, bin ich ganz bei Anja: Beteiligung, Beteiligung, Beteiligung ... Wenn Entscheidungsprozesse wirklich demokratisiert sind, werden die Leute aktiv und können sich auch mit schwierigen Ergebnissen identifizieren. Für uns als Gewerkschaften ist wirklich zentral, dass nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass das ganz schön schwierig ist. Der neoliberale Zeitgeist ist auch an unseren Kolleg*innen nicht spurlos vorübergegangen. Die Bereitschaft, sich solidarisch zu organisieren und aktive Verantwortung zu übernehmen, ist manchmal noch entwicklungsfähig.

Kommunizieren die Gewerkschaften untereinander eigentlich genug? Um den Aufstieg der Rechten und die Offensive der Arbeitgeber zu stoppen, bräuchte man doch wohl eine starke politische Gewerkschaftsbewegung.

Voigt: Mir fallen einige Beispiele für gute Kommunikation untereinander ein. Von der IG Metall sind wir neulich nach Hessen eingeladen worden, um unser Teamdelegierten-Prinzip vorzustellen. Das war eine richtig gute Erfahrung. Und im ehrenamtlichen Bereich erlebe ich sowieso viel Austausch unter Kolleg*innen. Ich würde aber zustimmen, dass wir noch viel mehr zwischengewerkschaftliche Kommunikation brauchen. Der Gegner ist aggressiver und cleverer geworden, und auch die Urteile an den Arbeitsgerichten werden nachteiliger für uns. Um da bestehen zu können, brauchen wir mehr übergreifendes Denken. In manchen Bereichen – zum Beispiel im Erziehungssektor zwischen ver.di und der GEW – gibt es ein altes Konkurrenzdenken, das wir dringend überwinden sollten. Da sehe ich den DGB in Verantwortung, viel systematischer für Austausch zu sorgen.

Sollten auch die Gewerkschaften die Motorsäge rausholen? Auf einer Kundgebung der IG Bau wird die Frage schon einmal mit ja beantwortet
Sollten auch die Gewerkschaften die Motorsäge rausholen? Auf einer Kundgebung der IG Bau wird die Frage schon einmal mit ja beantwortet

Erhardt: Ich würde das ähnlich beschreiben. Wir verstehen uns lokal untereinander gut. Der längste Streik, den wir in Frankfurt hatten, dauerte siebeneinhalb Wochen, und in der Zeit sind alle anderen Gewerkschaften dagewesen. Was die Solidarität angeht, kann ich mich also überhaupt nicht beschweren. Aber was die gemeinsame Mobilisierung für politische Ziele angeht – da bin ich Anjas Meinung: Die Gewerkschaften müssen mehr gemeinsamen politischen Druck aufbauen.

Wenn wir die Rechte stoppen wollen, müssen wir beweisen, dass man sich erfolgreich mit den Reichen und Mächtigen anlegen und für Umverteilung von oben nach unten sorgen kann.

Michael Ehrhard  IG Metall

Ein zentrales Anliegen ist der Kampf gegen rechts. Vom Soziologen Klaus Dörre und anderen gibt es einige Befunde dazu, dass die extreme Rechte gerade in abstiegsgefährdeten Belegschaften stark zulegt. Könnte und müsste die IG Metall da mehr tun?

Erhardt: Ich glaube erst mal nicht, dass der AfD-Wähleranteil bei unseren Mitgliedern höher ist als bei ver.di. Und übrigens erzählen mir auch Kollegen mit Migrationshintergrund des Öfteren, dass sie AfD wählen würden, wenn sie Wahlrecht hätten. Ich denke, das ist ein langer, schwieriger Kampf, der letztlich nicht auf schönen Veranstaltungen, sondern am Arbeitsplatz gewonnen wird. Unsere Vertrauensleute und Betriebsrät*innen müssen im Alltag um die Köpfe und Herzen der Menschen ringen. Dafür brauchen wir aber auch eine glaubwürdige politische Antwort für zentrale Probleme in der Gesellschaft: Wohnraummangel, Inflation, fehlende Kitaplätze ... Unsere Aufgabe als Gewerkschaft ist es, Forderungen aufzustellen und durchzusetzen, damit die sozialen Probleme anders gelöst werden als durch ein Nach-unten-Treten. Sprich: Wir müssen beweisen, dass man sich erfolgreich mit den Reichen und Mächtigen anlegen und für Umverteilung sorgen kann. Das Schlüsselproblem heute ist, dass viele der Beschäftigten uns das nicht mehr glauben. Sie zweifeln daran, dass eine Umverteilung von oben nach unten möglich ist – und sind deshalb anfällig.

Voigt: Ich bin da absolut Michaels Meinung: Am Ende zählt, was im Betrieb vorgelebt wird. Arbeitskämpfe sind für mich ein wichtiger Teil davon. Am Streikposten steht man lange mit Kolleg*innen zusammen und kann vielleicht ein Umdenken anstoßen. Sind wirklich die Migrant*innen und Bürgergeld-Empfänger*innen das Problem in unserem Land oder nicht doch eher die soziale Ungleichheit? Das ist eine Aufgabe, die wir in den Gesprächen immer wieder angehen müssen.

Unter der neuen Regierung wird es mit großer Wahrscheinlichkeit massive Sozialkürzungen geben. Was können die Gewerkschaften hier tun? Sollten Friedens- und Anti-Kürzungs-Bewegung stärker verbunden werden?

Voigt: Unbedingt! Bei ver.di haben wir auch eine klare Beschlusslage dazu. Aber die schafft es meiner Meinung nach zu selten in den öffentlichen Diskurs. Meine Gewerkschaft muss sich hier lauter und engagierter positionieren.

Ehrhardt: Was die Beschlusslage der IG Metall angeht, bin ich ganz zufrieden. Sie war beim letzten Gewerkschaftstag deutlich besser als die von ver.di – auch deshalb, weil noch einige Ergänzungen eingebracht wurden. Da heißt es jetzt: Immer weitere Aufrüstung lehnen wir ab. Meine Wahrnehmung ist allerdings, dass sich diese Stimmung gerade dreht. Die Rüstungsindustrie wird normalisiert. Und da ist unsere Aufgabe zu sagen: Wenn unbegrenzt Mittel in Rüstung investiert werden, wird dieses Geld an anderer Stelle fehlen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.