Die Befreiung kam halb Acht

Als Peter Neuhof sehnsüchtig die »Russen« erwartete und wie er dann überrascht wurde

Peter Neuhof auf einer Demonstration gegen Neonazis
Peter Neuhof auf einer Demonstration gegen Neonazis

Er sollte noch in den letzten Kriegstagen verheizt werden. »In einem Krieg der nicht meiner war, für einen Führer, den ich hasste«, betont Peter Neuhof. Im Februar 1945 wird er in den »Volkssturm« einberufen, soll Schützengräben ausheben, die »Reichshauptstadt« vorbereiten auf den erwarteten Ansturm der Roten Armee. Nicht lange. Es bleibt ihm erspart. Denn die Behörde erkennt alsbald ihren Irrtum: Peter Neuhof ist »Halbjude«. Und als ein solcher hat in einem »Sturm« des deutschen Volkes nichts zu suchen. Er kann in seinen Lehrbetrieb zurückkehren. Glück gehabt. Wie 1942, als er schon den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht erhalten hatte. Dann aber als »wehrunwürdig« anerkannt wurde, weil – laut den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 – ein »Mischling ersten Grades«. Oder im Oktober 1944, als man ihn zur Organisation Todt einziehen wollte, benannt nach deren Begründer Fritz Todt: Verteidigungsanlagen und Bunker bauen wie schon den sogenannten Atlantikwall und die Wolfsschanze. Wo vor allem Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene bis zur tödlichen Erschöpfung schuften müssen. Peter wird errettet; er ist in seinem Lehrbetrieb unabkömmlich, leiste »kriegswichtige Arbeit«, indem er unter anderem Teile für Granatwerfer fertigt.

Statt also Gräben auszuheben und sich im Bedienen einer Panzerfaust zu schulen, kehrt Peter zurück in die Wittenauer Werkzeugmaschinenfabrik Herbert Lindner. Die gilt als ein NS-Musterbetrieb und ist doch ein Hort der Opposition. Kommunisten und Sozialdemokraten arbeiten hier. Peter muss Denunziation nicht fürchten. Freudig verteilt er denn auch Flugblätter, die in den letzten Kriegstagen vion den »Amis« über Berlin abgeworfen wurden und ein nahes Ende des Krieges verkünden. Andererseits, man weiß nie. Spitzel und Denunzianten gibt es überall.

Die erste Hausdurchsuchung 1933 haben die Neuhofs dem Nachbarn zu verdanken, einem Professor der Veterinärmedizin. »Das war aber nicht so schlimm«, sagt Peter Neuhof. Da kam nur der Ortspolizist, schaute sich um, staunte über die lange Reihe Lenin-Bände: »Die hat der Lenin alle allein geschrieben?«, fragt die Ordnungsmacht ungläubig und trottet dann friedlich davon. »Die zweite Hausdurchsuchung war heftiger«, erinnert sich Peter Neuhof. »Da klingelten sie nicht erst, eine ganze Kohorte SA sprang über den Zaun und rannte uns die Tür ein.« Die Lenin-Werke waren da schon von Genossen weggeschafft worden.

Die Eltern von Peter, Karl und Gudrun Neuhof, sind beide Mitglied der KPD. Der Vater, der sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig meldete, zweimal schwer verwundet und zweimal mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden ist, verliehen von Kaiser Wilhelm II. dero selbst, kam ernüchtert aus dem Völkerschlachten heim und wird Kommunist. Er arbeitet für die Firma Neufeldt & Co. als Getreidehändler an der Berliner Börse. »Und verdiente gut. Wir konnten uns Urlaub in der Schweiz und in Dänemark sowie ein Dienstmädchen leisten«, erzählt Peter Neuhof. »Meine Eltern haben aber immer gern gegeben, Bedürftige unterstützt.« Sie spenden für die Erwerbslosenküche der Roten Hilfe und den Arbeitersportverein Fichte. In der Schule erleidet Peter keine Schikanen, obwohl man dort weiß, dass sein Vater Jude ist. Der Sportlehrer schimpft mitunter beim Fußballspiel, wenn der »Judenlümmel« einen Pass verfehlt. Im Turnen ist Peter besser, wie er im ASV beweisen kann.

Dann kommt der 1. April 1933, in ganz Deutschland werden jüdische Geschäfte, Kanzleien, Arztpraxen boykottiert. Vater Karl Neuhof ist monatelang arbeitslos, weil auch die Firma, für die er arbeitet, sanktioniert wird. Im folgenden Jahr zwar wiedereröffnet, wird sie nach der »Reichskristallnacht« vom 9. zum 10. November 1938, als in fast allen großen, aber auch kleineren Städten die Synagogen brennen, für immer geschlossen. Der Vater schlägt sich hernach mit Hilfsarbeiten durch, die Mutter, im Nazijargon eine »Arierin«, versucht das Familieneinkommen als Stenotypistin aufzubessern. Sie müssen in eine bescheidenere Wohnung umziehen. Sie halten den Kontakt zu den Genossen aufrecht, unter anderem über den »Kaffeelieferanten« Franz Demuth, der zur Widerstandsgruppe um den Kommunisten Anton Saefkow gehört. Demuth wird 1940 zur Wehrmacht eingezogen, Karl Neuhof im selben Jahr zur Zwangsarbeit in der sogenannten »Judenkolonne« der Farbenfirma Warnecke & Böhm verpflichtet.

Im September 1942 muss Peter die Schule verlassen. Auch »Mischlinge« werden nicht mehr geduldet. Peter freut sich: »Endlich tun und lassen, was man will.« Da steht eines Tages ein Mann vor der Tür. Peter lässt ihn herein. Er weiß um die politische Gesinnung seiner Eltern und ihre illegale Arbeit, ist also nicht verwundert über das Erscheinen des Fremden. Es handelte sich um Wilhelm Beuttel, erzählt Peter Neuhof, vor 1933 KPD-Landtagsabgeordneter in Hessen und aus den deutsch-okkupierten Niederlanden nach Deutschland zurückgekehrt, um im Auftrag der Partei eine neue konspirative Organisation aufzubauen, die »Knöchel-Gruppe«, wie sie in der Geschichtsschreibung später heißt. Die Auslands-KPD hat entschieden, »Instrukteure« zurück in die Höhle des Löwen zu schicken. Himmelfahrtskommandos. Viele fliegen sofort auf und bezahlen die im Exil getroffene Entscheidung mit ihrem Leben. So auch Wilhelm Knöchel. Und Wilhelm Beuttel. »Ihm und uns zum Verhängnis wurde, dass er sich seinen Wintermantel aus Holland schicken ließ.« Die Gestapo observierte den Transfer.

»Wenn die Sowjets nicht gekommen wären, wer weiß, ob ich und meine Mutter überlebt hätten.«

Peter Neuhof

Als Peter Neuhof am 10. Februar 1943 nach Hause kommt, wundert er sich: »Garten- und Haustür standen offen. Im Haus Männer in Ledermantel und Schlapphut, wie in einem schlechten Film – die Gestapo.« Von Beuttel keine Spur. Die Männer fragen Peter: »Wer ist der Mann, der bei euch gewohnt hat? Und wie lange hat er bei euch gelebt?« Peter druckst herum: »Vielleicht zwei Wochen?« Es war länger. Dann kommt die Mutter von der Arbeit. Auch sie wird befragt: »Einen Tag«, sagt sie und gibt vor, den Gast eigentlich gar nicht zu kennen. Peter und seine Mutter werden abgeführt und unsanft in einen schwarzen Mercedes gestoßen, der zur Gestapo-Zentrale am Alex rast. Auch Peter wird verhört, aber noch am selben Tag entlassen.

Seinen Vater sieht er nicht mehr wieder. Karl Neuhof ist bei Warnecke & Böhm verhaftet worden und wird nach über ein Jahr in diversen Berliner Haftanstalten ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. Auch die Mutter bleibt inhaftiert. Peter lebt allein in der elterlichen Wohnung. Eines Tages soll er sich beim Judenreferat der Gestapo melden. Er erhält die bescheidene Habe des Vaters aus der Haft, ohne Kommentar, darunter ein Gefängnistagebuch, das der Sohn Jahrzehnte später veröffentlichen wird.

Erst im Prozesses gegen die Mutter im Januar 1944 erfährt Peter, dass der Vater bereits zwei Monate zuvor in Sachsenhausen erschossen worden ist. Gertrud Neuhof wird ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück eingewiesen. Der Krieg zieht sich hin, nichts scheint die Nazidiktatur zu erschüttern. Die in der Normandie gelandeten Westalliiierten sind noch weit weg. Und das Attentat der Verschwörer um Claus Graf von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944 scheitert. Die Rache der Nazis ist grausam und gründlich.

Dann endlich, das neue Jahr weckt Hoffnungen. Die Rote Armee rollt mit Wucht aus dem Osten heran. »Zu Hitlers Geburtstag, am 20. April, schütteten die Briten und Amerikaner noch einmal ihre Bomben über Berlin aus.« Peter erwartet sehnsüchtig »die Russen«. Zwei oder drei Tage später kommen sie. Nicht mit Panzern. In Frohnau ziehen sie mit Panjewagen ein. Ein schmächtiger Rotarmist springt von einem Pferdefuhrwerk und geht auf Peter zu. Der überglückliche Berliner Junge will ihn umarmen. Der Soldat weicht zurück und fragt im barschen Ton: »Kotori tschas?« Peter versteht ihn nicht, errät dann jedoch dessen Gesten und krempelt seinen linken Hemdsärmel hoch. »›Halb Acht.‹ Und schwups war die Uhr weg«, berichtet der Veteran, keineswegs verärgert, im Gegenteil, amüsiert. Er verübelte es damals und auch heute dem Sowjetsoldaten nicht. »Das war meine Befreiung«, sagt Peter Neuhof und lacht. Und fügt dann mit ernstem Gesicht hinzu: »Wenn die Sowjets nicht gekommen wären, wer weiß, ob ich und meine Mutter überlebt hätten. Sie haben uns gerettet.«

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Gertrud Neuhof wird auf dem Todesmarsch von Rotarmisten befreit. »Am 30. Juli 1945, an meinem 20. Geburtstag, konnte ich sie in Crivitz in die Arme schließen.« Beide machen sich daran, ein neues Deutschland aufzubauen. Doch die Alliierten entzweien sich. Deutschland wird gespalten. Und Berlin auch. Der nunmehrige Westberliner Peter Neuhof arbeitet für den (Ost)Berliner Rundfunk, die Stimme der DDR, berichtet unter anderem vom Moabiter Judenmordprozess 1970. Er ist Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und der Linkspartei. Er hat seine Erinnerungen aufgeschrieben, und die Geschichte seiner Familie väterlicherseits, die zahlreiche Opfer unter deutsch-faschistischen Antisemitismus zu beklagen hatte: »Als die Braunen kamen«.

Peter Neuhof bedauert, sich nicht mehr an Demonstrationen gegen Neonazis beteiligen zu können. »Der Kopf ist klar, aber die Kniee machen nicht mehr mit.« Eine Schande nennt er es, dass Rechtsradikale wieder in deutschen Parlamenten sitzen. Wr wünscht sich eine wehrhaftere und wahrhafter Demokratie, hofft und vertraut auf eine wachsame Zivilgesellschaft.

Ich frage den Jahrhundertzeugen, wie er den 30. Juli begehen werde, ob es eine große Feier geben wird? Peter Neuhof antwortet: »Nee. Wieso. Ich bin doch kein berühmter Mensch. Nur weil ich hundert werde?«

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