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Konjunkturpaket für die AfD
Das Programm von Schwarz-Rot schürt industriepolitisch die Illusion, es könne ein Weiter-so geben. Gegen Migranten setzt man auf Panikmache
Friedrich Merz war am vergangenen Dienstag im ersten Wahlgang gerade erst gescheitert, da überschlugen sich Journalisten in Deutschland bereits in Appellen an Vernunft und staatsbürgerliche »Verantwortung« der Parlamentarier. Keine Rede mehr davon, dass Abgeordnete laut Grundgesetz »nur ihrem Gewissen unterworfen« sein sollen. Stattdessen hieß es plötzlich unisono: Wer die AfD stoppen will, muss jede Kritik zurückstellen und jetzt den Kanzler wählen.
Dabei wird in Wirklichkeit umgekehrt ein Schuh draus: Es ist die Wahl von Merz, die der AfD das Feld bereitet. Das kurze Aufbegehren am Dienstagmorgen war wie ein letztes Zucken der politischen Vernunft. Denn das Programm der neuen Bundesregierung liest sich wie ein Konjunkturpaket für die extreme Rechte. Industriepolitisch schürt es die falsche Illusion, es könnte so etwas wie ein Weiter-so für die Automobilnation Deutschland geben. Migrations- und sicherheitspolitisch hingegen macht es sich das AfD-Narrativ zu eigen, wonach die »irreguläre« Armutsmigration für die soziale Krise verantwortlich ist. Wenn sich die Wirtschaftskrise – wie zu erwarten – weiter verschärft, werden die Wähler »wissen«, gegen wen sich ihr Ärger zu richten hat. Besser kann es für die Faschisten kaum laufen.
Politik fürs Kapital
Dabei bemüht sich die Regierung Merz fast schon krampfhaft, Aufbruchstimmung zu verbreiten. Vor allem wirtschaftlich soll es endlich wieder aufwärtsgehen. So kreist das erste Drittel des 146-seitigen Koalitionsvertrags fast ausschließlich um die Frage, wie sich die Bedingungen für das Kapital so verbessern lassen, dass die Exporte wieder ins Rollen kommen. So sollen die Unternehmen durch »Bürokratieabbau«, die Absenkung der Energiekosten im Rahmen eines »Strompreispakets« und Steuersenkungen »entlastet« werden. Strafzahlungen im Rahmen von Flottengrenzwerten für CO2 wird eine Absage erteilt. Das Lieferkettengesetz, das ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt einen Riegel vorschieben sollte, soll wieder abgeschafft werden. Zudem legt man ein Bekenntnis zur Automobilproduktion als »Schlüsselindustrie und Arbeitsplatzgarant für unser Land« ab.
Weniger Bedenken gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen zeigt die Koalition beim unteren Viertel der Gesellschaft. So soll das erst 2023 eingeführte Bürgergeld in eine »neue Grundsicherung für Arbeitssuchende« umgewandelt werden, mit dem man »Arbeitsanreize zu verbessern« sucht. Sprich: Mit bürokratischen Zwangsmaßnahmen will man dafür sorgen, dass Arbeitskräfte dem Niedriglohnsektor schnell wieder zur Verfügung stehen. Und auch in der Innen- und Sicherheitspolitik, in der nicht weniger als eine »Zeitenwende« angekündigt worden ist, gibt sich die Regierung Merz anpackend. Obwohl selbst die umstrittene »polizeiliche Kriminalitätsstatistik« des BKA eine seit 2010 relativ unverändert gebliebene Zahl an Straftaten in Deutschland konstatiert, schließt sich die schwarz-rote Koalition dem AfD-Narrativ an, dem zufolge die Sicherheitslage in Deutschland völlig außer Kontrolle zu geraten droht. Die »Große-Kontroll-Koalition« (wie Mathias Monroy sie in dieser Zeitung genannt hat) plant, die Vollmachten der Polizei zu erweitern, biometrische Fernidentifizierung sowie Staatstrojaner einzuführen und die Kooperation zwischen den Sicherheitsapparaten erleichtern.
Im Fadenkreuz der »Sicherheitsoffensive« steht – wie sollte es anders sein – die »irreguläre Migration«. Zwar will die Regierung zur »Sicherung der Fachkräftebasis« auch weiterhin »qualizifizierte Einwanderung« ermöglichen. Doch zur Abwehr ökonomisch weniger nützlicher Menschen werden alle erdenklichen Instrumente gezückt: Der Familiennachzug soll ausgesetzt, die Zurückweisung an Grenzen innerhalb der EU wiedereingeführt und eine »Rückführungsoffensive« gestartet werden, bei der man auf Masseninhaftierungen setzen will.
Die allgemeine Panikmache richtet sich auch gegen deutsche Staatsbürger mit ausländischer Familiengeschichte. So will die Regierung bei der »Clan-Kriminalität« eine »vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen unklarer Herkunft« durchsetzen – was nichts anderes bedeutet als die Aufhebung der Unschuldsvermutung. In eine ähnliche Richtung geht die Ankündigung, dass zukünftig nicht nur Sprengstoff, sondern auch Messer als Gegenstände zur Vorbereitung terroristischer Anschläge betrachtet werden sollen.
Implosion der Mitte-Parteien
Auf diese Weise signalisiert die Regierung Merz den Wähler*innen, wer schuld daran ist, wenn sich die Wirtschaftskrise verschärft. Und letzteres wiederum ist in Anbetracht der strukturellen Probleme des deutschen Modells nur schwer zu vermeiden. Denn erstens wird die Exportorientierung Deutschlands aufgrund des neuen US-Protektionismus und wachsender geopolitischer Konkurrenz zusehends zum Problem. Zweitens haben deutsche Unternehmen bei der Transformation hin zu einem »elektrischen Kapitalismus« (wie die Politikwissenschaftlerin Birgit Mahnkopf das laufende Transformationsprojekt bezeichnet) gegenüber China den Anschluss verloren. Drittens schließlich gibt es eine Umwelt- und Klimakrise, die sich mittlerweile auch in steigenden Preisen und verknappenden Ressourcen niederschlägt. Ein wirtschaftspolitisches Weiter-so kann es hier gar nicht geben.
Man muss deshalb kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die sozialen Abstiegsängste in der Gesellschaft weiter an Bedeutung gewinnen werden. Für die AfD ist das wie ein Geschenk, denn keine andere politische Kraft kann Verunsicherung so für sich nutzen wie sie. Ihr Programm der Realitätsverweigerung deckt sich mit der weitverbreiteten Sehnsucht nach der Bewahrung des Status quo. Schon in den 30er Jahren beruhte der Erfolg des Faschismus auf dem Versprechen, die Gesellschaft radikal zu verändern, ohne die grundlegenden Verhältnisse anzutasten. Ganz ähnlich läuft es auch heute wieder: Solange die politische Mitte alles unternimmt, damit über Kapitalismus und Verteilungsverhältnisse nicht gesprochen wird, kann die Krise nur der extremen Rechten zugutekommen.
Sehr wahrscheinlich ist, dass die Entwicklung schon bald auch die Union selbst in eine Existenzkrise stürzen wird. Dass der besonders lobbyistensnahe CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mit dem Hinweise, »er könne als Generalsekretär den Politikwechsel besser forcieren«, auf einen Ministerposten verzichtet hat, deutet darauf hin, wie sich die Unions-Rechte die Rollenverteilung der kommenden Jahre vorstellt. Bei jeder schlechten Nachricht wird sie für eine zusätzliche Rechtsverschiebung trommeln. Auch die »Brandmauer« zur AfD dürfte schon bald wieder zur Disposition stehen.
Solange in der Bevölkerung die Illusion vorherrscht, mit Kampfjets ließen sich soziale Rechte verteidigen, werden Kürzungen auf breite Akzeptanz stoßen.
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Ob dadurch der Zustimmungsverlust für die Union gestoppt werden kann, darf jedoch bezweifelt werden. Bisher ist die Kooperation mit rechtsextremen Parteien noch keiner bürgerlichen Partei in Europa gut bekommen. Fällt die Union dauerhaft hinter die AfD zurück, wie sich das in ersten Umfragen andeutet, sind erhebliche Absetzbewegungen zu erwarten. In Italien, Frankreich und den Niederlanden hat man in den letzten Jahren beobachten können, wie schnell die christdemokratischen und liberalkonservativen Staatsparteien zerfallen, wenn ihnen eine regierungsfähige Konkurrenz von rechts entsteht.
Beste Voraussetzungen für eine weitere Radikalisierung der bürgerlichen Mitte – laut Infratest/Dimap liefen bei den vergangenen Bundestagswahlen eine Million Wähler*innen von der Union, 890 000 von der FDP und 720 000 Stimmen von der SPD zur rechtsextremen AfD über.
Kürzungen, Klima, Polizei
Doch wie lässt sich dem Aufstieg der extremen Rechten etwas entgegensetzen, wenn von der politischen Mitte nichts zu erwarten ist? Der Gewerkschaftslinke Michael Ehrhardt (IG Metall) hat das Problem in einem Interview in dieser Zeitung in zwei Sätzen zusammengefasst: Wer die AfD stoppen wolle, müsse »beweisen, dass man sich erfolgreich mit den Reichen und Mächtigen anlegen und für Umverteilung sorgen kann. Das Schlüsselproblem heute ist, dass viele der Beschäftigten uns (den Gewerkschaften, Anm. d. V.) das nicht mehr glauben«.
Wichtigste antifaschistische Strategie in den kommenden Jahren wird deshalb sein, Umverteilungsfragen erfolgreich auf die Agenda zu setzen. Bei der Mietpreisentwicklung, die durch soziale Kämpfe (zuletzt vor allem die Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen), aber auch den Wahlkampf der Linkspartei thematisiert wurde, ist das in den letzten Jahren durchaus gelungen. Auf einen großen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst hingegen, der die verheerende Lage der öffentlichen Daseinsvorsorge problematisieren und fast drei Millionen Beschäftigte mobilisieren hätte können, hat Verdi aus Zweifel an der eigenen Kampffähigkeit verzichtet.
An Anlass für Proteste wird es unter der neuen Regierung sicher nicht mangeln. Friedrich Merz hat schon vor einigen Wochen angekündigt, die »Zeiten des Paradieses« seien vorbei. Weil Steuererhöhungen ausgeschlossen werden, bleibt nur das Kürzungsdiktat. Widerstand dagegen wird sich aber nur entwickeln können, wenn die Proteste auch die Aufrüstungspolitik in den Blick nehmen. Solange in der Bevölkerung die Vorstellung vorherrscht, mit Kampfjets würden soziale Rechte und Freiheiten »von uns allen« verteidigt, werden Kürzungsmaßnahmen auf breite Akzeptanz stoßen. Dass es an der Seite von Rüstungskonzernen und Militärs noch nie irgendwo eine progressive Politik gegeben hat, ist im Augenblick auch in Gewerkschaften und Sozialverbänden leider keine weitverbreitete Erkenntnis.
Als zweites Mobilisierungsthema zurückkehren dürfte – mit den vorhersehbaren Extremwetterereignissen – schon bald auch wieder die ökologische Krise. Die Partei Die Linke wäre gut beraten, sich hier frühzeitig in Stellung zu bringen und die materialistische Dimension der großen Stoffwechselkrise verständlich zu machen. Der Klimawandel wird unter kapitalistischen Vorzeichen nicht gestoppt werden können und hat viel mit globalen Klassenverhältnissen zu tun. Die reichen zehn Prozent der Weltbevölkerung verursachen ihn, für die unteren Klassen stellt er eine existenzielle Bedrohung dar. Übrigens auch in den reichen Industrieländern, denn steigende Lebensmittelpreise werden auch hier die Armen vor Probleme stellen.
Ein drittes Feld schließlich, auf dem sich unter der neuen Regierung Proteste entzünden könnten, ist die Frage der staatlichen Repression. In Deutschland wird bislang eher wenig zur Kenntnis genommen, dass sich einige der wichtigsten Massenbewegungen der vergangenen Jahre gegen die Polizei richteten. Die Black-Lives-Matter-Proteste 2020 in den USA brachten zwischen 15 und 25 Millionen Menschen auf die Straße. In Frankreich kommt es nach Polizeimorden in den Banlieues regelmäßig zu Aufständen. Und auch die Abwahl der neoliberalen Regierungen Chiles und Kolumbiens 2022 war in erster Linie monatelang anhaltenden Anti-Polizei-Protesten geschuldet.
Der Fall des 21-jährigen Schwarzen Lorenz A., der Ende April in Oldenburg von der Polizei hinterrücks erschossen wurde, zeigt, dass das Problem in Deutschland nicht weniger ausgeprägt ist. 22 Personen wurden im vergangenen Jahr hierzulande von der Polizei erschossen – in Frankreich waren es im Skandaljahr 2023, als das ganze Land über die Erschießung des 17-jährigen Nahel Merzouk debattierte, dreizehn Fälle. Eine Studie der Universität Bochum ging 2019 von mehr als 12 000 Verdachtsfällen unrechtmäßiger Polizeigewalt in Deutschland aus.
Abolitionistische und migrantische Gruppen stellen das Phänomen in einen direkten Zusammenhang mit der Grenzpolitik. Die Aufrüstung der Polizeiapparate und die Abschottung der Grenzen seien zwei Seiten einer Medaille. Beide Maßnahmen richteten sich gegen eine Armutsbevölkerung, die häufig migriert ist, und besäßen in diesem Sinne einen klassenpolitischen Kern. Deshalb sei es auch kein Zufall, dass beide Themen im Programm der extremen Rechten eine Schlüsselrolle spielen.
Die 10 000 überwiegend migrantischen Menschen, die nach der Hinrichtung von Lorenz A. in Oldenburg auf die Straße gingen, und eine Reihe von Brandanschlägen, die in der ansonsten eher ruhigen norddeutschen Stadt auf Autos verübt wurden, machen deutlich, dass Polizeigewalt auch in Deutschland zunehmend Widerstand provoziert.
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