Polizei verbietet Halstuch der Naziopfer

Absurde Situationen am Tag des Sieges über den Faschismus am sowjetischen Ehrenmal in Treptow

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Botschafter Sergej Netschajew mit Georgsband am 9. Mai am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park
Botschafter Sergej Netschajew mit Georgsband am 9. Mai am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park

»Eure großen Heldentaten sind unsterblich, euer Ruhm wird Jahrhunderte überleben. Die Heimat wird euch stets in Erinnerung behalten.« So steht es geschrieben am Eingangsportal des sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park. 7000 Soldaten sind hier beigesetzt, die 1945 bei der Befreiung Berlins vom Faschismus ihr Leben verloren.

Viele in und bei Berlin lebende Menschen, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stammen, kommen am 9. Mai, dem Tag des Sieges, um Blumen niederzulegen. Zwei Frauen haben Fotos ihrer Vorfahren dabei – Vater und Sohn in Uniform. Diese kämpften in dem Krieg, der in Russland als der Große Vaterländische Krieg bezeichnet wird. Deutsche kommen eher am 8. Mai, aber durchaus auch am 9. Mai.

Russische und sowjetische Fahnen, die früher zu diesem Anlass wehten, verbietet die Berliner Polizei seit 2022 mit Hinweis auf den aktuellen Krieg in der Ukraine. Russische und sowjetische Fahnen und Symbole dürfen am 8. und 9. Mai an den drei Ehrenmalen in Schönholz, im Tiergarten und im Treptower Park nicht gezeigt werden. Doch während die Beamten dieses Jahr am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, nicht die Taschen kontrollierten, tun sie es am 9. Mai, dem Tag des Sieges. Der wird versetzt gefeiert. Denn durch die Zeitverschiebung war es in Moskau schon einen Tag später, als dort 1945 die Nachricht einging, dass Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in Berlin-Karlshorst bedingungslos kapituliert hatte.

Hammer und Sichel aus China

Das strenge Auge der Polizisten verschont am Freitag auch einen kleinen Anstecker mit Hammer und Sichel nicht. Conny Renkl von der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) muss ihn aus dem Knopfloch nehmen. Dabei ist dieser Anstecker kein sowjetischer, sondern ein chinesischer, wie jemand vom Deutsch-Chinesischen Freundschaftsverein aus Ludwigsfelde mit Kennerblick bestätigt. Conny Renkel versichert, er habe das Teil 2011 in Shanghai gekauft – in dem zum Museum umfunktionierten Haus, in dem 1921 der Gründungskongress der Kommunistischen Partei Chinas getagt hatte.

Noch absurder wird es bei dem Halstuch, das Andreas Eichner von der Wagenknecht-Partei BSW auf Verlangen der Polizei abnehmen muss. Es ist ein Halstuch der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – blau-weiß gestreift wie die Kleidung der KZ-Häftlinge und in der Mitte prangt der rote Winkel, mit dem die SS politische Gefangene kennzeichnete. Doch eine Polizistin habe bei der Einlasskontrolle darauf beharrt, dass dies die Farben der russischen Flagge seien, erzählt Eichner. Er habe das Tuch abnehmen und einstecken müssen, um passieren zu dürfen.

Küsschen vom russischen Botschafter

Um acht Uhr bringt ein Mitarbeiter der russischen Botschaft einen Kranz mit Schleifen in Weiß, Blau und Rot wie die Staatsflagge. Er trägt ein Georgsband am Revers, ein militärisches Abzeichen. Ihm folgen Kollegen mit Blumen, noch mehr weiß-blau-roten Schleifen und noch mehr ebenfalls untersagten Georgsbändern. Es wird ihnen nicht verwehrt. Für Diplomaten gelten die Auflagen der Polizei nicht. Botschafter Sergej Netschajew erscheint wie angekündigt pünktlich auf die Minute um 9.15 Uhr. Mit Küssen links und rechts auf die Wange begrüßt er russisch-orthodoxe Geistliche, mit Handschlag Diplomaten befreundeter Nationen wie Kasachstan. Dann sagt Netschajew: »Poidjom!« (Lasst uns losgehen!)

Von der Skulptur »Mutter Heimat« bis zur überdimensionierten Plastik eines Soldaten mit gesenktem Schwert und Kind auf dem Arm muss die große Gruppe ein ganzes Stück laufen. Auf halber Strecke hat sich die Rotfuchs-Singegruppe postiert: drei Frauen, die das DDR-Kinderlied »Kleine weiße Friedenstaube« anstimmen, abwechselnd in der deutschen Originalversion und auf Russisch. Am Ziel warten nicht nur die Kränze von Russland und Kasachstan, auch die von Turkmenistan, Tadschikistan, Belarus und Kirgisien sowie der verfeindeten ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan. Außerdem aufgestellt ist jeweils ein Kranz Vietnams und der DDR, als ob jene noch existieren würde. Das Emblem mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz glänzt schon länger in der Sonne, bevor kurz nach zehn Uhr mit Egon Krenz der letzte noch lebende Ex-Staatsratsvorsitzende auftaucht. Der mittlerweile 88-Jährige erscheint, wenn er es ermöglichen kann, jedes Jahr zu diesem Termin.

Oben auf den Treppen zum Denkmal wird wiederholt im Chor »Uurra« gerufen, was gleichbedeutend mit »Hurra« ist. Mit einem »Uurra« auf den Lippen stürmten sowjetische Infanteristen einst die Seelower Höhen, mit »Uurra« feierten sie ihre Siege. Seitlich versetzt brüskieren einige Männer und Frauen Russland und seine Freunde, indem sie demonstrativ ukrainische Flaggen und eine Nato-Fahne hochhalten.

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Es ist das Gegenprogramm zu den Losungen, die an der Bühne der DKP zu lesen sind: »Frieden mit Russland! Raus aus der Nato!« Bei einer DKP-Veranstaltung am Vorabend am Franz-Mehring-Platz waren schwarz-orange gestreifte Georgsbänder für 50 Cent das Stück verkauft worden. Der DKP-Landesvorsitzende Stefan Natke stellt sich am Freitag mit einem solchen Band auf die Bühne. Die Polizei habe ihn daraufhin abgeführt, seine Personalien festgestellt und ihn anschließend wieder auf freien Fuß gesetzt, berichtet er dem »nd«. Natke beruft sich auf ein Gerichtsurteil, wonach das Georgsband nicht verboten werden dürfe.

Die Geschichte umgedeutet

Angesichts ukrainischer Fahnen kommt es am Ehrenmal zu erregten Wortwechseln. Ein Russlanddeutscher, der 1994 aus Kasachstan in die Bundesrepublik übersiedelte, beschwert sich über Symbole ukrainischer Rechtsextremisten, die er zu erkennen glaubt. Die Polizei überprüft das und schreitet nicht ein. Dass sich der russische Staat mit der AfD einlässt, damit hat der Russlanddeutsche kein Problem. Er will nicht glauben, dass die AfD eine rechtsextremistische Partei sei. Den Hinweis auf geschichtsrevisionistische Tiraden des Brandenburger AfD-Landtagsabgeordneten Dominik Kaufner, der in einer Rede zum 8. Mai Deutsche als Opfer der Russen hinstellte und nicht von Befreiung sprechen wollte, tut der Mann als Einzelfall ab. Die AfD sei keine rechtsextreme, sondern eine patriotische Partei, beharrt er. Wer die AfD nicht gut finde, sei kein Patriot.

Es gibt am 9. Mai verschiedenste Aktionen. Der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD veranstaltet einen Friedensmarsch von der Glienicker Brücke zum Schloss Cecilienhof, wo die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren das Potsdamer Abkommen aushandelten. Es sah die Entmilitarisierung Deutschlands vor. Heute rüstet die Bundesrepublik wieder auf.

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