Eine Sache der Kommune

Nach einer Haftstrafe in die eigene Wohnung ziehen oder auf der Straße leben? Die Antwort ist einzelfallabhängig

In einer Zelle fallen Mietzahlungen oder Wohnungssuchen schwer.
In einer Zelle fallen Mietzahlungen oder Wohnungssuchen schwer.

»Allgemein gilt: Es ist sehr unklar, wie das System funktioniert«, sagt Christina Müller-Ehlers, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe (BAG-S) im Gespräch mit »nd«. Die BAG-S veröffentlichte kürzlich einen Bericht zur Wohnsituation von Inhaftierten und Haftentlassenen in Deutschland, für den sie die Landesjustizministerien zu ihrem Vorgehen befragte. Das Ergebnis: Je nach Bundesland variiert die Datenlage. Bei Unterstützungsmaßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit sei das Vorgehen oft eine Sache von Einzelfallentscheidungen. »Die Situation ist kommunen- oder sogar sachbearbeiterabhängig«, sagt Müller-Ehlers.

Laut dem Wohnungslosenbericht der Bundesregierung ist die Ursache dafür, dass Menschen keinen festen Wohnsitz oder geschützten privaten Wohnraum haben, zu zwölf Prozent eine vormalige Inhaftierung. Haft ist damit der dritthäufigste Grund für Wohnungslosigkeit in Deutschland, nach Mietschulden (36,8 Prozent) und Wohnungslosigkeit, weil das Miet- an ein Arbeitsverhältnis gebunden war (14,6 Prozent). Auch deswegen betonte die Ampel-Regierung im Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit die Notwendigkeit, ein stärkeres Augenmerk auf Haftentlassene zu legen.

Dabei gibt es grundsätzlich ein Recht auf Wohnungserhalt. Sozialhilfeträger übernehmen Mietkosten, wenn durch einen Haftaufenthalt Schulden entstehen und Wohnorte deswegen gekündigt werden könnten. Viele Betroffene und ihre Angehörigen seien aber nicht über diese Möglichkeit informiert, so die BAG-S. »Ein Gerücht, dass Mieten nur bei Haftdauern von sechs bis zwölf Monaten übernommen werden, wurde zur gelebten Praxis«, erklärt Müller-Ehlers.

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An sich muss, laut Bundessozialgericht, Sozialhilfe dann gewährt werden, wenn dadurch eine »drohende Notlage« vermieden werden kann. Mit der Haftdauer dürfe das nicht zusammenhängen, so das zugehörige Urteil. Justizanstalten halten sich jedoch bei dem Entscheid über die Übernahme von Mietkosten nicht an die Vorgaben des Gerichts, sondern an Auslegungen der Sozialhilfeträger. Und diese divergieren, je nach Region.

So bewilligen Baden-Württemberg und Hamburg die Übernahme bei Haftstrafen bis zu 12 Monaten, Rheinland-Pfalz bei bis zu sechs bis sieben Monaten, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern bei bis zu sechs Monaten und alle anderen Länder entscheiden im Einzelfall. Bei Personen mit kurzer Haftdauer wie bei Ersatzfreiheitsstrafen wird zudem kein Antrag gestellt, obwohl auch hier während der Haft keine Übernahme der Mietkosten durch Jobcenter erfolgt.

Besonders kritisch ist die Situation für Menschen, die von Abschiebung bedroht sind. Sie sind zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern vom Übergangsmanagement ausgeschlossen, in Brandenburg ist ein strukturiertes Vorgehen laut Angaben der Anstalten nicht möglich. Das Übergangsmanagement ist die Unterstützung bei der Resozialisierung.

Eine weitere Schwierigkeit sei, wie die BAG-S feststellt, die unklare Datenlage. So können beispielsweise zur Anzahl der jährlich aus der Haft Entlassenen fünf Landesjustizministerien keine Angaben machen, vier weitere unterschieden nicht in Haftarten. Das sei zu kritisieren, schreibt die BAG-S, »da diese Kennzahlen eine wichtige Datengrundlage für die Planung und Steuerung von Maßnahmen des Übergangsmanagements darstellen«.

Die BAG-S fordert deshalb eine bundesweite Resozialisierungsstatistik und mehr Mietübernahmen während Inhaftierungen. Dies sei kostengünstiger als spätere Unterbringungen in Notfallhilfen. Zudem würden offenere Vollzugsformen und ein verbesserter Internetzugang in Haft Wohnungssuchen vereinfachen. Im Allgemeinen brauche es außerdem mehr bezahlbaren Wohnraum in Ballungsräumen.

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