Journalisten im Defensivmodus

Olivier David kritisiert Zeitungen für ihre Berichterstattungen über Migrant*innen, die das Land wegen der AfD verlassen wollen

Zeitungskritik – Journalisten im Defensivmodus

Kürzlich habe ich auf Instagram eine Story von einem Journalisten gesehen. Sinngemäß stand darin: »Ich suche eine Person, die aus Angst vor rassistischer Gewalt plant, das Land zu verlassen und mit mir sprechen würde.« Allerlei Daten sprechen dafür, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gefährlich leben. In Umfragen steht die AfD ungefähr gleichauf mit der CDU/CSU. 2024 verzeichnete Deutschland einen Höchststand rechtsextremer Gewalt. Einige neue Gruppen junger Rechtsextremer terrorisieren ganze Landstriche mit Gewalt.

Texte über Menschen, die wegen des grassierenden Rassismus das Land verlassen wollen, haben Konjunktur. Allein die bürgerliche Wochenzeitung »Zeit« hat im vergangenen Jahr mehr als ein halbes Dutzend Texte zu dem Thema verfasst, dicht gefolgt von der linksliberalen »Taz«. Liest man sie, scheint es, als stünde Deutschland bald ohne Menschen mit Migrationshintergrund dar.

Man muss an dieser Stelle, so zynisch es klingen mag, von einem journalistischen Trend sprechen. Verzweifelte Journalist*innen auf der Suche nach verzweifelten Menschen, die das Land verlassen wollen. Ein Schneeballeffekt. Wer noch nicht verzweifelt war, ist es spätestens nach den Berichten der Menschen, die Deutschland verlassen wollen.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der monatlichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.

Texte wie diese haben eine grundsätzliche Berechtigung. Sie erzählen etwas über ein Land, wenn Menschen einer Personengruppe auf gepackten Koffern sitzt. Ich hege allerdings leise Zweifel an der Ehrlichkeit dieser Texte. Meine Zweifel gelten dabei keineswegs den Protagonist*Innen.

Das Problem mit der Schwemme dieser Sorte Text ist der Fokus. Bei der Frage »Fight or Flight?« ist der Modus klar gewählt: Flight (zu Deutsch: Flucht). Dieser Modus ist ein Modus der Defensive.

Man muss nicht glauben, Deutschland steht kurz vor 1933, damit einem Zweifel an der Schwemme dieser Texte vorkommen. Die Kritik an diesen Texten ist vor allem eine strategische und gilt den Journalist*innen. Lautet die Analyse: Es gibt keine Kämpfe zu gewinnen, man wird eh verlieren, deshalb berichte ich über Leute in der Defensive?

Wenn es für die Verfasser kurz vor 1933 ist, warum dann der alleinige Fokus auf Migrant*innen? Waren es damals nicht Linke und Oppositionelle, die zuerst das Land verlassen haben? Wo sind die Texte über Linke, die ins Ausland fliehen? Und wer kann sich die Flucht leisten? Wer verfügt über das Wissen, über das Geld, die Sozialkontakte, den »richtigen« Pass?

Und in welches Land fliehen? Frankreich? Arbeitslosigkeit und Polizeigewalt dort sind höher; die Zustimmung für deren rechtsextreme Partei ebenfalls. Österreich? Polen? USA? Die Zustimmungen für Nationalismus liegt hier ebenfalls über dem deutschen Niveau.

Wie wäre es, Texte über das Bleiben und Kämpfen zu schreiben? Fight Modus! Wo sind die Texte über migrantische Selbstorganisation? Wo die Suche nach einer antifaschistischen Volksfront, wo die empörten Engagierten? Wann suchen Journalist*innen nach Menschen, deren Maxime lautet: Die letzte Schlacht gewinnen wir? Einen Leser hätten sie.

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