»Wahnhafte Verschwörungstheorie« zu roten Händen

Jahrzehntealte Protestsymbolik soll im Nahost-Konflikt antisemitisch sein

Auch in Israel wird das Motiv roter Hände regelmäßig bei Protesten gegen den Gaza-Krieg genutzt.
Auch in Israel wird das Motiv roter Hände regelmäßig bei Protesten gegen den Gaza-Krieg genutzt.

Ende April übte die Jüdische Gemeinde Frankfurt scharfe Kritik an einem Plakat für das Benefizkonzert »Make Freedom Ring« in der Katharinenkirche, das Spenden für die Arbeit der Menschenrechtsorganisation Medico International im Gazastreifen sammelt. Neben klassischen Friedenssymbolen wie Olivenzweigen und Tauben waren darauf auch zwei rot bemalte Hände mit einem Auge in der Mitte zu sehen – eine Anspielung auf die im Nahen Osten als Schutzsymbol verbreitete »Hand der Fatima«. Benannt ist es nach Fatima al-Zahra, der Tochter des Propheten Mohammed.

Die Jüdische Gemeinde warf den Veranstaltenden dessen ungeachtet vor, mit den roten Händen ein Motiv zu verwenden, das von islamistischen Gruppen wie der Hamas »als gewaltverherrlichendes und antisemitisches Symbol instrumentalisiert wird«. Es erinnere an ein Bild aus dem Jahr 2000, das einen palästinensischen Mann zeigt, der nach einem Lynchmord an zwei israelischen Soldaten in Ramallah triumphierend seine blutverschmierten Hände aus einem Fenster hält. 

Auch im Streit um eine auf X gepostete Kachel von Ulrike Eifler, Mitglied im Parteivorstand der Linkspartei, gab es Kritik an der verwendeten Symbolik roter Hände. Das Bild zeigt den Umriss des historischen Palästina auf schwarzem Hintergrund, ausgefüllt mit Handabdrücken in den palästinensischen Farben Weiß, Grün und Rot, begleitet von dem Slogan »Free Palestine«. Einige Nutzer*innen des Kurznachrichtendienstes interpretierten das Motiv nicht nur als Delegitimierung des Staates Israel, sondern auch als Anspielung auf besagten Lynchmord in den besetzten Gebieten vor 25 Jahren. 

Eifler beugte sich dem Furor nicht – und kassierte dafür eine öffentliche Distanzierung des Parteivorstands. Die Hilfsorganisation Medico International, die das Konzert »Make Freedom Ring« in anderen Städten und zuletzt auch in der Frankfurter Katharinenkirche organisiert hatte, strich die roten Hände hingegen vom Plakat. Vorausgegangen war eine Intervention der Evangelischen Kirche Frankfurt und Offenbach, die sich auf die Erklärung der Jüdischen Gemeinde bezog. »Wir bedauern zutiefst, dass es [das Plakatmotiv] Schmerz und Empörung ausgelöst hat«, heißt es in einer Mitteilung der Kirche. 

Die Evangelische Kirche hatte außerdem erklärt, das Motiv sei »in der Vergangenheit zur Rechtfertigung von Gewalt gegen Israelis missbraucht worden«. Doch stimmt die Behauptung überhaupt? Die Sprecherin konnte jedenfalls auf mehrfache Nachfragen kein Beispiel nennen, in dem rote Hände je mit der Absicht der Verherrlichung des Doppelmords im Westjordanland abgebildet worden waren. Die Jüdische Gemeinde antwortete auf Nachfragen dazu nicht.

In Deutschland hat dieses Narrativ vor zwei Jahren »Belltower« verbreitet. Die von der Amadeu-Antonio-Stiftung betriebene Webseite bezeichnete die Verwendung des Symbols der roten Hände als »Dogwhistle-Taktik«: Für die Mehrheit der Betrachter*innen wirke es harmlos, bei Jüd*innen solle es aber an das Gewaltereignis in Ramallah erinnern – nach dieser Lesart also als eine bewusste Provokation.

Das Symbol der roten Hände wird auch in Israel seit über zwei Jahrzehnten regelmäßig in politischen Protesten verschiedenster Strömungen verwendet.

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Das Internetportal bezog sich auf eine Protestaktion an der Universität der Künste Berlin (UdK) im November 2023: Rund 100 Studierende hatten blutrote Hände gezeigt, während sie Hunderte Namen im Gaza-Krieg getöteter Kinder vorlasen. »Belltower« verschlagwortete seinen Bericht dazu unter der Rubrik »Rechtsextremismus« und bezeichnete die Performance als »Schmierentheater«. 

Die Erzählung, es habe sich an der UdK fünf Wochen nach dem 7. Oktober um eine antisemitische Aktion gehandelt, wurde in vielen deutschen Medien verbreitet – Hunderte Lehrende und Mitarbeitende an der UdK Berlin bezeichneten die roten Hände in einer Stellungnahme sogar als »ikonisches Intifada-Zeichen«. Ein Jahr später sekundierte das vom Berliner Senat finanzierte Portal »Democ« unter dem Titel »Was bedeuten die roten Hände?«, das Foto verweise »bis heute auf antisemitische Morde und Terror«. Im Nahost-Konflikt seien rote Hände für viele Israelis und Jüd*innen sogar »untrennbar« mit dieser Bedeutung verbunden. 

Jedoch wird das Symbol der roten Hände seit Jahrzehnten in unterschiedlichen politischen und aktivistischen Kontexten genutzt, etwa in den 60er Jahren bei Protesten gegen den Vietnamkrieg, gegen den chilenischen Diktator Augusto Pinochet oder Wladimir Putin – was auch »Democ« nicht bestreitet. Frauenrechtsbewegungen, Klimaaktivist*innen und Tierrechtler*innen verwenden es ebenso. Am jährlichen »Red Hand Day« am 12. Februar demonstrieren Menschen weltweit mit roten Händen gegen den Einsatz von Kindersoldaten.

Noch wichtiger: Das Symbol der roten Hände wird auch in Israel seit mehr als zwei Jahrzehnten regelmäßig in politischen Protesten verschiedenster Strömungen verwendet. In einem Thread auf Bluesky zeigt der nd-Autor Yossi Bartal auf, dass es sogar bei aktuellen, gegen die Regierung gerichteten Demonstrationen zur Freilassung der Geiseln vermehrt zu sehen ist. Die Darstellung von »Belltower«, »Democ« und der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, besonders in Israel sei das Motiv eindeutig oder »untrennbar« mit dem Lynchmord konnotiert und werde von bestimmten Gruppen genau deshalb verwendet, hält Bartal daher für »absurd«.

Auch der Nahostwissenschaftler Tom Khaled Würdemann sieht den Ursprung des Motivs der roten Hände in der westlichen Antikriegsbewegung. Die behauptete Konnotation mit der Tat von Ramallah nennt er eine »indizienlose, wahnhafte Verschwörungstheorie«. Wer behaupte, die roten Hände seien ein »heimliches Symbol des Badens im Blut geschlachteter Juden«, dem fehle es an »Medienkompetenz im Internetzeitalter«, sagte Würdemann »nd«. Der Forscher wies in einer früheren Veröffentlichung auch darauf hin, dass die Studierenden an der UdK ihre Performance der roten Hände mit den Worten »Your silence equals blood on your hands« (»Euer Schweigen bedeutet Blut an Euren Händen«) kontextualisiert und damit einer Deutung als Glorifizierung eines Mordes entzogen hätten. Gleichwohl zeige die Debatte um Verwendung dieses Symbols laut Würdemann auch die verhärteten Fronten eines Konfliktes auf, in dem wenig Wert auf die Sensibilitäten der anderen Seite gelegt werde.

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Was steckt also hinter der angeblichen und als antisemitisch bezeichneten Rote-Hände-Verschwörung? Es mag stimmen, dass manche Israelis und Jüd*innen das Motiv mit antisemitischer Gewalt verbinden, wie die Evangelische Kirche in Frankfurt es vermutete – für viele andere gilt das jedoch nicht. Noch weniger lässt sich belegen, dass die Symbolik bei früheren oder aktuellen Protesten gegen Israels Regierungspolitik in den palästinensischen Gebieten bewusst in dieser Absicht eingesetzt wird.

Es liegt nahe, dass die Unterstellungen helfen sollen, palästinasolidarische Stimmen zu maßregeln – wie es in Deutschland derzeit in nie dagewesenem Maße geschieht. Darauf verweist auch die Stellungnahme der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, in der es heißt: »Aufgrund der Historie und der besonderen Verantwortung, die aus dem Versagen der Kirchen in der Schoa hervorgeht, sollten gerade diese ganz genau hinschauen, mit wem sie kooperieren.« Nicht nur Musiker*innen, die mit Konzerten auf das zehntausendfache Sterben im Gaza-Krieg aufmerksam machen wollen, werden mit derartigen Anschuldigungen zum Schweigen gebracht.

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