Überlebende von Atomwaffentests: »Sie schwiegen aus Schmerz«

Mehr als 2000 Kernwaffentests wurden seit 1945 weltweit durchgeführt – ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung. Ein Gespräch mit zwei Überlebenden.

Nach der Explosion einer französischen Atombombe 1971 schwebt dieser riesige Atompilz über dem Mururoa-Atoll, etwas über 1000 Kilometer von Tahiti entfernt.
Nach der Explosion einer französischen Atombombe 1971 schwebt dieser riesige Atompilz über dem Mururoa-Atoll, etwas über 1000 Kilometer von Tahiti entfernt.

Frau Morgant-Cross, am 27. Januar 1996 zündete Frankreich auf einem kleinen Atoll eine Atombombe, etwa 1000 Kilometer entfernt von Ihrer Heimat Tahiti, der Hauptinsel Französisch-Polynesiens. Der letzte Test nach Jahrzehnten der Nuklearexperimente. Sie waren damals sieben Jahre alt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Hinamoeura Morgant-Cross: Wir haben in der Schule von diesen Tests gehört. Sie wurden uns aber als Fortschritt verkauft: Arbeitsplätze, Straßen, Fernsehen – alles sei durch das Atomprogramm ermöglicht worden. Ich dachte, es seien einige wenige Versuche gewesen, und stellte mir harmlose Laborexperimente vor.

Wann änderte sich Ihr Bild davon?

Morgant-Cross: 2018 las ich in der Zeitung, dass ein polynesischer Aktivist Frankreich vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verklagt. Zum ersten Mal hörte ich von den 193 Tests, über 40 davon oberirdisch. Einer war 150-mal so stark wie die Bombe von Hiroshima. Erst da wurde mir klar: Ein Test, das ist eine richtige Bombe. Ich war fassungslos.

Was taten Sie dann?

Morgant-Cross: Ich suchte Informationen zu Krankheiten durch Strahlung – und fand auf einer Liste vieles, was meine Familie betrifft. Meine Großmutter erkrankte in den 90ern an Schilddrüsenkrebs, ihre Töchter und meine Schwester leiden an Schilddrüsenerkrankungen. Eine Tante bekam Brustkrebs. Und gegen Leukämie, die auch gelistet war, kämpfe ich seit 2013.
Ich schämte mich, dass ich das alles erst als studierte 30-Jährige begriff. Also beschloss ich, Aktivistin zu werden. Seitdem widme ich mein Leben dem Kampf gegen Atomwaffen und für Gerechtigkeit.

Sprach Ihre Familie nie über die Atomtests?

Morgant-Cross: Meine Familie wusste zwar Bescheid, mein Großvater war sogar Antiatom-Aktivist in der Kirche – aber sie haben uns davon nicht wirklich erzählt. Ich glaube, es schmerzte sie so sehr, dass sie nicht darüber sprechen wollten.
Viele Menschen aus Mā`ohi Nui (Indigene Bezeichnung für Französisch-Polynesien, Anmerkung der Redaktion) dachten aber auch, es gehe sie nichts an, da die Tests ja 1000 Kilometer von der Hauptinsel entfernt stattfanden und 1996 endeten. Das hat viel mit der französischen Propaganda zu tun, die Tests seien »sauber«. Außerdem brachte das Atomprogramm vielen Leuten Arbeit. Einige von ihnen sind immer noch dankbar, dass sie nun ein Haus besitzen – auch wenn sie von den Tests krank geworden sind.

Frau Seitenova, Sie stammen aus Kasachstan, aus der Nähe des ehemaligen sowjetischen Testgeländes Semipalatinsk. Dort wurden von 1949 bis 1989 mehr als 450 Atomwaffen gezündet.

Aigerim Seitenova: Obwohl wir von ganz verschiedenen Orten stammen, ähneln sich unsere Erfahrungen. Auch das sowjetische Testgelände wurde gezielt gewählt – weit weg von Moskau, in einem Gebiet mit kaum slawischer Bevölkerung. Über die indigene Bevölkerung wurde einfach hinweggesehen. Das passt zu anderen Gewaltakten der Sowjetzeit: etwa der Hungersnot der 30er Jahre, bei der ein Drittel der Kasachen starb, oder als während des Zweiten Weltkriegs ethnische Minderheiten überproportional an die Front geschickt wurden.

Interview

Hinamoeura Morgant-Cross, geboren 1988 in Französisch-Polynesien (Mā’ohi Nui), ist Anti-Atom-Aktivistin und seit 2023 auch Abgeordnete des dortigen Parlaments. Dieses verabschiedete im September 2023 einstimmig eine Resolution zur Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) und in der Frankreich aufgefordert wird dem AVV beizutreten. Er verbietet allen Vertragsparteien den Besitz, die Entwicklung und Weitergabe von Kernwaffen. 73 Staaten sind dem Vertrag bisher beigetreten, darunter allerdings keine der Atommächte. Für ihr Engagement erhielt Morgant-Cross den Nuclear-free Future Award.

Aigerim Seitenova, geboren 1994 in Kasachstan, arbeitet zu Menschenrechten, nuklearer Abrüstung und Feminismus. Sie ist Mitgründerin der Qazaq Nuclear Frontline Coalition, einer Initiative, die sich für Gerechtigkeit gegenüber den Betroffenen der sowjetischen Atomtests einsetzt. Im März 2025 veröffentlichte sie den Dokumentarfilm »JARA – Radioactive Patriarchy: Women of Qazaqstan«.

Sie bezeichnen sich als »Überlebende der dritten Generation«. Wie hat Ihre Familie das sowjetische Atomtestprogramm erlebt?

Seitenova: Meine Familie stammt aus Dörfern nur 40 Kilometer vom Testgelände entfernt. Das Gelände ist riesig – so groß wie Slowenien. 120 Bomben wurden oberirdisch gezündet, die restlichen unterirdisch, nach Inkrafttreten eines Teilstopp-Abkommens von 1963.
Meine Mutter kam 1962 zur Welt, damals beeilte sich die Sowjetunion, noch so viele Bomben wie möglich oberirdisch detonieren zu lassen. Mein Großvater arbeitete bei der Eisenbahn im Bereich der Logistik. Er war viel Strahlung ausgesetzt und verstarb 1963.
Auch wir haben nicht über Atomtests gesprochen. Als ich aufwuchs, war mir nicht bewusst, dass die meisten meiner älteren Familienmitglieder entweder schon gestorben waren oder im Sterben lagen. Ich selbst hatte zwar immer mit gesundheitlichen Probleme zu kämpfen, aber keiner wusste, warum. Erst als 2017 bei meiner Mutter eine Blutkrankheit diagnostiziert wurde, fand ich heraus, dass ich die gleiche Krankheit habe. Sie leidet zudem an Schilddrüsenproblemen, wie viele in der Region.

Warum dieses Schweigen in der Familie?

Seitenova: Ich glaube, es ist ähnlich wie bei Hina (Spitzname von Hinamoeura Morgant-Cross, Anmerkung der Redaktion): Sie schwiegen aus Schmerz. Es geht dabei auch um die anderen Verbrechen, die von den Sowjets an uns begangen wurden.
Wenn ich heute Überlebenden zu der Zeit nach den Atomwaffentests befrage, dann sprechen sie von »Frieden«, wobei das eigentlich nicht die richtige Übersetzung aus dem Kasachischen ist. Sie sagen gewöhnlich: »Wenn Ruhe herrscht, dann gibt es nichts zu befürchten« – das meinen sie mit Frieden. In ihrer Jugend haben sie die Atompilze gesehen und bei den unterirdischen Tests gab es jedes Mal Explosionen, die sich wie Erdbeben anfühlten. 40 Jahre lang lebten sie in ständiger Ungewissheit und Angst darüber, was mit ihrem Land geschah und warum so viele Menschen Kinder mit Behinderungen oder gesundheitlichen Problemen bekamen.

Haben Sie das Testgelände später besucht?

Seitenova: Ja, ich war zweimal dort. 2018 und 2022. Das erste Mal war ich mit einer Gruppe internationaler Experten dort. Für sie war es eine Auseinandersetzung mit theoretischen Fragen zur Abrüstung. Für mich war der Besuch überwältigend: dieser katastrophale Ort für Menschen und Umwelt, die Krater von den Explosionen, das Geräusch, wenn der Geigerzähler anschlägt. Aber ich fühlte mich unter den Experten fehl am Platz mit meinen Emotionen – ich konnte nicht einfach anfangen zu weinen.

Und der zweite Besuch?

Seitenova: 2021 beschloss ich, einen Film zu drehen. Ich hatte es satt, dass sich ständig Leute einmischten, unsere Geschichten verdrehen und uns nur als Opfer zeigen. Ich wollte die Geschichte selbst erzählen, als Betroffene über meine eigene Community. Als ich das Testgelände für den Film 2022 noch einmal besuchte, konnte ich dem Fahrer sagen, dass ich etwas Zeit für mich brauche, um alles zu verarbeiten.

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Ihr Dokumentarfilm heißt »JARA – Radioactive Patriarchy«. Was haben Atomwaffentests mit dem Patriarchat zu tun?

Seitenova: Die Forschung zeigt, dass die Strahlung die reproduktive Gesundheit von Frauen und Mädchen besonders beeinträchtigt. Aber ich wollte zeigen, dass es mehr ist als dieser biologische Aspekt. Es geht auch um Rollenverteilung: Frauen tragen viele Lasten – sie versorgen kranke Kinder, stemmen das Überleben oft allein. Und in der Abrüstungsdebatte dominieren Männer. Ich wollte beweisen: Frauen übernehmen längst Führungsrollen in diesem Kampf.
Ich betrachte all das aber auch aus einer dekolonialen Perspektive: Manche sagen, wir seien keine Kolonie der Sowjetunion gewesen. Aber wir hatten keine Entscheidungsgewalt. Wenn wir die Wahl gehabt hätten, hätte sich mein Volk nicht dafür entschieden, Versuchskaninchen im Kalten Krieg zu sein.

Frau Morgant-Cross, Sie sind Mutter zweier Kinder. Wie prägt das Ihren Aktivismus?

Morgant-Cross: Die Kinder sind mein Antrieb. Ich kämpfe nicht nur für die Abschaffung von Atomwaffen, sondern dafür, meinen Kindern ein sicheres Leben zu ermöglichen. Seit ihrer Geburt ist es meine Aufgabe, sie zu schützen. Ich möchte eine Zukunft für sie gestalten, in der sie ihr Recht auf Leben entfalten können. Denn dieses Recht wurde uns genommen, in dem unser Land missbraucht und unser Volk vergiftet wurde.
Ich denke an die Hibakusha in Japan – die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Auch sie verwandelten ihr Leid in einen Appell für Frieden. Das ist unsere Aufgabe: unsere Geschichte erzählen und damit eine atomwaffenfreie Welt fordern.

Dafür waren Sie vergangene Woche in Deutschland. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Seitenova: Deutschland soll dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten, aus der nuklearen Teilhabe aussteigen und US-Truppen ausweisen. Die Aufrüstung läuft in Deutschland völlig aus dem Ruder. Das muss gestoppt werden. Auch aus seiner Geschichte heraus hat Deutschland dafür eine besondere Verantwortung.
Wichtig ist auch der Dialog zwischen den Generationen. Jüngere wissen oft nichts mehr über den Kalten Krieg. Dafür würde es helfen, die Verbindung zur Klimakrise zu ziehen, denn nicht nur Krieg, nicht nur die Detonation von Atomwaffen, auch deren Produktion wirkt sich negativ aufs Klima aus.

Vom 4. bis 13. Mai 2025 lud die mit dem Friedensnobelpreis geehrte Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) drei Überlebende der Atomwaffentests aus Kasachstan und Französisch-Polynesien nach Deutschland ein, um über die bis heute anhaltenden Folgen der nuklearen Testreihen in ihren Heimatregionen zu berichten. Neben Hinamoeura Morgan und Aigerim Seitenova war auch Aigerim Yelgeldy vor Ort. Sie stammt ebenfalls aus Kasachstan und setzt sich für nukleare Gerechtigkeit ein – obwohl sie gegen Krebs kämpft.

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