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Die leere Grenze zwischen Leben und Tod

Auf ägyptischer Grenzseite zum Gazastreifen stapeln sich Hilfsgüter für hungernde Palästinenser. Doch Israel blockiert sie weiterhin

  • Chiara Cruciati, Rafah
  • Lesedauer: 8 Min.
Hungernde Palästinenser versuchen verzweifelt, an die wenigen Lebensmittelspenden zu kommen.
Hungernde Palästinenser versuchen verzweifelt, an die wenigen Lebensmittelspenden zu kommen.

50 Kilometer entfernt ist das Geräusch der Explosionen als dumpfes Dröhnen zu hören. An der Küste von Al-Arish im Sinai unterbricht das Echo für einige Sekunden das Rauschen des Wassers an der Küste. Wie ein Feuerwerk in der Ferne. Die Ägypter, die hier leben, sagen, dass sie die Geräusche des Bombenhagels auf den Gazastreifen schon seit einem Jahr hören, als Israels Bodenoffensive in Rafah begann. Das war am 6. Mai 2024. Seit diesem Tag besetzen israelische Panzer die palästinensische Seite des Grenzübergangs nach Ägypten. Sie zerstörten ihn und machten ihn unbrauchbar. Früher konnte Hilfe von zwei Punkten aus in den Gazastreifen gelangen, von Karem Abu Salem im Süden und von Rafah im Westen. Nur der erste ist geblieben.

Einst ein Symbol, dass zumindest für die Idee von Freiheit stand, ist der Grenzübergang von Rafah heute eine leere Hülle, ein Tor zu dem, was sein sollte, doch nicht ist. Auf der ägyptischen Seite stehen Sanitäter und Mitarbeiter des Ägyptischen Roten Halbmonds, stehen Krankenwagen still, gibt es zwei 50 000 Quadratmeter große Lagerhäuser, die so voll mit humanitärer Hilfe sind, dass sie schon neue Lager bauen. Es gibt ein System für den Empfang, die Lagerung und die Verteilung von Hilfsgütern aus aller Welt, das einen Organisationsgrad erreicht hat, den es vor einem Jahr noch nicht gab. Alles dient dazu, die Lieferung zu beschleunigen und das Risiko zu verringern, dass Güter beschädigt in Gaza ankommen.

Alles ist da, und doch ist nichts da. Der Grenzübergang ist ein Nicht-Ort, surreal, die Grenze zwischen Leben und Tod und das plastische Bild eines Genozids: eine gefangene Bevölkerung, ausgehungert und bombardiert, getrennt von lebensrettender Hilfe, mit dem offensichtlichen Ziel, einen Prozess der Vertreibung einzuleiten. Schließlich kann man an einem unbewohnbaren Ort nicht leben.

Der Anschein von Hilfe

Diese Reportage entstand am vergangenen Wochenende. Seit dem 2. März bis zu diesem Zeitpunkt hatte Israel alle Hilfslieferungen nach Gaza komplett blockiert. Seit Montag sind zwar neue Lieferungen angelaufen, offenbar jedoch in unzureichendem Maß, um die Hungerkrise im Gazastreifen zu bekämpfen. Am Montag wurden fünf Lkw über die Grenze nahe Rafah gelassen, am Dienstag 93. Vor der Blockade waren es gut 500 pro Tag. Pascale Coissard, Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen vor Ort, kritisierte die Mengen als »lächerlich unzureichend«. Sie seien nur ein »Nebelschleier, um vorzutäuschen, die Belagerung sei vorbei«. Die Vereinten Nationen berichteten derweil, dass die Hilfsgüter selbst nach ihrer Ankunft im Gazastreifen stundenlang blockiert wurden, sodass sie nicht an die Bevölkerung verteilt werden konnten. nd

Die italienische Solidaritätsdelegation »Gaza jenseits der Grenze« kommt am vergangenen Freitag am Grenzübergang zu Rafah an, der umgestaltet worden ist. Es gibt ein neues Stück Betonmauer, das wie der Keim einer Schließung wirkt, die endgültig werden könnte. Die unbefestigte Straße nach Karem Abu Salem wird seit dem 2. März auch nicht mehr von Lastkraftwagen befahren. Es gibt auch keine »Betreiber« der ägyptischen Agentur Hala mehr, die anderthalb Jahre lang die Ausreise von Palästinensern aus dem Gazastreifen verwaltet hat, mit Gebühren, die die Familien ausbluten ließen – bis zu 5000 Dollar pro Person für einen Aufenthalt unter einem Himmel ohne Bomben.

Bis 9.30 Uhr tötet die israelische Armee in nur wenigen Stunden bereits mehr als 100 Palästinenser an diesem Tag. Die Angriffe sind unaufhörlich: Vor den Toren Rafahs kann man alle paar Minuten das dumpfe Dröhnen hören, verbunden mit dem Wissen, dass jede Explosion den Tod bedeutet.

Yousef Hamdouna kommt aus Gaza, war einige Wochen vor dem 7. Oktober 2023 verreist und konnte seitdem nicht mehr zurückkehren. Er arbeitet nun für die italienische NGO Educaid. Vor dem Grenzübergang tut er nun das, was er auch vor einem Jahr tat, als er erstmals mit einer solchen Delegation hier ankam: Er ruft seine Schwester Manal auf der anderen Seite der Mauer an. Danach berichtet er: »Sie hat mir erzählt, dass sie nichts mehr zu essen haben, dass ihnen das Wasser ausgegangen ist. In der letzten Nacht wurden sie bombardiert. Sie weiß nicht, wohin sie fliehen soll, niemand weiß es. Im Hintergrund konnte ich die Bombardierung um sie herum hören.«

»Meine Schwester hat mir erzählt, dass sie nichts mehr zu essen haben, dass ihnen das Wasser ausgegangen ist. In der letzten Nacht wurden sie bombardiert. Sie weiß nicht, wohin sie fliehen soll, niemand weiß es.«

Yousef Hamdouna
palästinensischer Mitarbeiter der italienischen NGO Educaid

Von Israel auferlegte Verzögerungen und die als Kriegswaffe eingesetzte Bürokratie haben derweil Hunderte von ägyptischen Fahrern gezwungen, wochen-, ja monatelang zu warten, um lebensrettende Hilfsgüter an die palästinensische Bevölkerung zu liefern. Sogar eine Moschee und ein Lebensmittelladen sind auf dem Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Grenzübergangs entstanden, eine Esplanade aus verbrannter gelber Erde.

Die von den Nichtregierungsorganisationen Aoi, Arci und Assopace Palestina in Zusammenarbeit mit der überparteilichen Parlamentariergruppe für den Frieden zwischen Palästina und Israel organisierte Delegation, die diesen Ort nun besucht, besteht aus mehr als 60 Personen, darunter Abgeordnete der vornehmlich linken Parteien AVS, M5S und PD, humanitäre Helfer und Journalisten. Viele von ihnen stehen nun vor dem Grenzübergang, vor ihnen liegen Plüschtiere, Babykleidung und Fotos von Kindern, die bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getötet wurden. Symbole für 18 000 Kinder, die bei dieser Offensive starben, für Zehntausende Verletzte und Waisen und Hunderttausende Kinder, denen Nahrung, medizinische Versorgung und Schulbildung vorenthalten wird.

Sie entrollen ein Transparent »Stoppt die Komplizenschaft« und halten Plakate hoch: »Stoppt den Genozid jetzt«, »Keine Straffreiheit für internationale Verbrechen«, »Beendet die illegale Besatzung«, »Stoppt die Bewaffnung Israels«. Es sind die Botschaften, die sie von Rafah aussenden wollen. Sie zeigen auch die Gesichter der europäischen Staats- und Regierungschefs: Meloni, Macron, Von der Leyen, Kallas.

»Hier draußen gilt alles, was in Palästina nicht gilt, auch das Völkerrecht«, sagt Alessandra Annoni, Juristin und Dozentin an der Universität Ferrara. »Die Liste der Verstöße, die täglich begangen werden, ist endlos: Die vier Genfer Konventionen, die Normen des humanitären Rechts und des Gewohnheitsrechts, die Verträge, zu deren Einhaltung sich Israel verpflichtet hat, und die Konventionen, die es ratifiziert hat, die internationalen Menschenrechtsnormen, die im gesamten besetzten Gebiet verletzt werden, drei vorsorgliche Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs und zwei Resolutionen des Sicherheitsrats, die Israel dazu verpflichten, Hilfsgüter ungehindert und in großem Umfang in den Gazastreifen zu lassen. Alle diese Verstöße sind Teil der Strategie, die Israel für einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung verfolgt.«

Zwei Lagerhallen mit einer Gesamtfläche von 80 000 Quadratmetern sind voller Hilfsmittel, die nicht über die Grenze gelangen.
Zwei Lagerhallen mit einer Gesamtfläche von 80 000 Quadratmetern sind voller Hilfsmittel, die nicht über die Grenze gelangen.

Der jüngste Akt dieser Strategie ist eine neue Militäroffensive mit dem Titel »Gideon’s Chariots«. Sie hat inzwischen begonnen – mit dem erklärten Ziel, die Bevölkerung nach Süden zu treiben, konzentriert auf einen minimalen Raum. Am Tag der Ankunft der Delegation werden letztlich insgesamt 125 Palästinenser getötet. Das indonesische Krankenhaus im Norden wird belagert und beschossen und beendet daraufhin den Betrieb. Muhammad Zaqout, Generaldirektor der Krankenhäuser im Gazastreifen, prangert das offene Feuer der israelischen Armee auf Ärzte und Patienten des Krankenhauses, das Scharfschützenfeuer auf alles, was sich bewegte, und den Beschuss der Intensivstation an.

»Wir sind hier, um die Realität, die Apokalypse, zu erleben«, sagt Walter Massa, Präsident von Arci. »Die Delegation soll verschiedene Realitäten zusammenbringen, denn allein können wir es nicht schaffen. Ich denke, wir sind einen Schritt vorangekommen, aber es ist noch zu wenig, und wir haben schon zu viel Zeit verloren. Es handelt sich um eine politische Aktion: Wir müssen uns um eine koordinierte Kommunikation bemühen, um klare und starke Botschaften zu verbreiten.«

Laura Boldrini, Abgeordnete der Demokratischen Partei, fügt hinzu: »Wir wollen die Komplizenschaft der europäischen Staats- und Regierungschefs anprangern, weil niemand etwas unternimmt, um diese Ausrottung zu stoppen. Wir brauchen Sanktionen, müssen die Waffenlieferungen aussetzen, ohne die diese Ausrottung nicht andauern würde. Wir müssen das Kooperationsabkommen zwischen der EU und Israel aussetzen, weil es auf der Einhaltung der Menschenrechte beruht.«

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Zur Delegation in Rafah gehören vor allem diejenigen italienischen NGOs, die schon seit Jahrzehnten in Palästina arbeiten und nun – mit den neuen von Israel eingeführten Regelungen – Gefahr laufen, nicht mehr dorthin zurückkehren zu können. »Als zivilgesellschaftliche Organisationen sind wir es gewohnt, mit Opfern von Konflikten zu arbeiten, aber im Gazastreifen hat die Situation ein so ernstes Ausmaß erreicht, dass selbst NGOs wie unsere machtlos sind«, erklärt Giulia Torrini von Un Ponte Per. Angesichts der genozidalen Absichten könne man gar nicht anders, als auf politischer Ebene zu handeln. An der Delegation teilzunehmen, bedeute, sich an diesem politischen Kampf zu beteiligen. »Die anwesenden Parteien haben versprochen, uns ab sofort bei unseren Initiativen zur Seite zu stehen.«

Die Delegation macht sich schließlich auf den Weg zu jenen Lagerhäusern, in denen seit zweieinhalb Monaten die Hilfsgüter warten, eines der krassesten Bilder der israelischen Besatzung. Etwa 1000 Lastwagen sind noch hier. Knapp 10 000, die sich während der monatelangen Blockade angesammelt hatten, wurden vom ägyptischen Roten Halbmond geleert, die Ladungen in die Lagerhäuser verlegt. Alles andere wäre zu teuer gewesen. Am Sonntagabend, kurz vor der Abreise der Delegation, kommt die Pressemitteilung von Israels Premier Benjamin Netanjahu: Die Regierung habe die sofortige Wiederaufnahme der humanitären Hilfe genehmigt. Einzelheiten sind spärlich. Schnell wird klar, dass die Hilfe »minimal« sein wird.

»Vor einem Jahr forderten palästinensische Journalisten, Aktivisten und Entwicklungshelfer von uns zuallererst einen Waffenstillstand«, berichtet Valentina Venditti, Leiterin der NGO Ciss für den Nahen Osten und Nordafrika. »Jetzt fordern sie, dass wir unsere Aktionen intensivieren und entschiedener vorgehen. Priorität habe nun die Beendigung des Genozids und der ihn verursachenden militärischen Besatzung. Wir müssen für Palästina handeln, aber auch für uns selbst, denn wir stehen vor einem Massenfriedhof – nicht nur an den Palästinensern, sondern auch des Völkerrechts und unserer Werte.«

Der Text ist am 18. Mai in längerer Fassung in unserem Partnermedium »Il Manifesto« erschienen.

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