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Armutsbetroffenheit: »Andere wollten mich in ein System zwingen«
Jürgen Schneider über Armutserfahrungen, Wohnungslosigkeit und die Stärke Betroffener
Sie sind Mitinitiator und Vorsitzender des Vereins Armutsnetzwerk. Was ist Ihre Rolle?
Erst mal: Wir haben keine Vorsitzenden, sondern gleichberechtigte Vorstandsmitglieder. Wir arbeiten gerade wegen unserer unterschiedlichen Hintergründe an verschiedenen Projekten, wo wir an den Schnittstellen die Sichtweisen der armutsbetroffenen Menschen einbringen können. Die Rolle von Vorstandsmitgliedern ist rechtlich leider notwendig, aber für unsere Arbeit völlig unerheblich, weil wir alle zusammen gemeinsame Themen bearbeiten. Wir haben eine andere Struktur als zum Beispiel bei Porsche oder Siemens: Bei uns ist es wichtig, dass die Menschen, die ein Thema betrifft, eingebunden werden – es kommt auf die Qualität des gemeinsamen Resultats an, nicht auf die Wichtigkeit einzelner Personen. Wir sind kein Verband, sondern ein Netzwerk, das verbindet!
Was macht das Armutsnetzwerk?
Jenseits unserer Vernetzung versuchen wir, direkt mit Entscheidungsträgern in Politik und Verbänden ins Gespräch zu kommen und unsere Anliegen dort und in den Medien zu vertreten. Wir haben uns über die Jahre hinweg eine gewisse Reputation aufgebaut, vor allem gegenüber den Wohlfahrtsverbänden. Uns ist aber bewusst, dass unsere Einflussmöglichkeiten begrenzt sind. Was mich persönlich angeht, ist das Schwerpunktthema natürlich die Wohnungslosigkeit. Zu Wahlen rufen wir immer wieder besonders wohnungslose Menschen auf.
Jürgen Schneider, Jahrgang 1963, lebte seit seinem 18. Lebensjahr mehrere Jahrzehnte lang auf der Straße. Er ist Mitinitiator des 2012 in Niedersachsen gegründeten Vereins Armutsnetzwerk und bekam für sein vielfältiges ehrenamtliches Engagement im März 2025 von Landrat Tobias Gerdesmeyer (Vechta) in Dinklage die höchste Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland, das Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen.
Sie selbst haben jahrzehntelange Erfahrungen mit Armut und Wohnungslosigkeit gemacht.
Ich bin in Solingen aufgewachsen und im Alter von 18 Jahren auf der Straße gelandet, bin viel herumgezogen, habe immer meinen eigenen Kopf gehabt, habe erfahren, wie andere mich in ein System zwingen wollten. Ich habe versucht, ein Leben zu führen, das als normal gilt und bin mehrfach gescheitert. Aber auch Scheitern gehört zum Leben. Im Rückblick habe ich trotzdem viel geschafft. Und natürlich hat es eine persönliche Bedeutung, wenn man etwas von »unten« herauf erarbeitet.
Wie ist das Armutsnetzwerk entstanden?
Bei einem Treffen der Menschen mit Armutserfahrungen in Berlin 2008 kam die Idee auf, dass arme Menschen sich irgendwie organisieren und für sich eine Lobby aufbauen sollten. Dietmar Hamann, andere und ich nahmen das als Initiatoren in die Hand. Die formelle Vereinsgründung erfolgte dann 2012 in Niedersachsen. Hintergrund war auch eine Initiative des Europäischen Netzwerks gegen Armut (European Anti-Poverty Network, EAPN), die beabsichtigte, auf nationaler Ebene Netzwerke armutsbetroffener Menschen in politische Entscheidungen einzubinden. Den großen Wohlfahrtsverbänden wurde schnell signalisiert, dass tatsächlich Betroffene beteiligt werden müssen. Das führte dazu, dass das Armutsnetzwerk heute eine Stimme in der Nationalen Armutskonferenz hat.
Aus welchen Leuten besteht das Armutsnetzwerk?
Wir haben zurzeit 23 Mitglieder und einige Förderer. Unsere Mitglieder und Aktiven bringen alle verschiedene Hintergründe aus anderen Initiativen mit ein, etwa aus der Arbeit für Straßenzeitungen, der Winterhilfe für Wohnungslose, der selbstorganisierten Beratungsarbeit für Grundsicherungs-Empfänger, aus der Initiative Bauen Wohnen Arbeiten (IBWA), aus Kulturlogen, der Lebensmittelverteilung und vielen anderen Initiativen.
Auf welche Erfolge kann das Armutsnetzwerk zurückblicken?
Wir konnten von Anfang an am Wohnungslosenberichtserstattungsgesetz mitarbeiten und konnten im Ausschuss für Arbeit und Soziales, Jugend und Familie des Bundestages sprechen. Wir sind in verschiedenen Gremien vertreten, zum Beispiel im Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe. Wir sind Mitbegründer im Kongress »Armut und Gesundheit« des Gremiums von Menschen mit Armutserfahrung und im Programmkomitee Handlungsfeld »Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik«. Auch in verschiedenen Arbeitsgruppen des Nationalen Aktionsplans »Beendigung der Wohnungslosigkeit 2030« sind wir dabei, und seit Langem unterstützen wir die Treffen der Menschen mit Armutserfahrung in der Nationalen Armutskonferenz, ab und zu auch in Nordrhein-Westfalen lokal.
Sie sind auch auf europäischer Ebene aktiv.
Ja, und da haben wir bei einem Treffen in der portugiesischen Stadt Porto festgestellt, dass die staatlichen Systeme teilweise ganz andere sind, und dass es daher auch andere Lösungen geben muss als in Deutschland. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Betroffenen immer am besten wissen, worum es vor Ort gerade geht.
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Was hat sich in den mittlerweile 13 Jahren seit der offiziellen Gründung Ihres Netzwerks verändert?
Manches hat sich verbessert, leider hat sich vieles auch zum Negativen verändert. Das Positive: Wir werden mehr wahrgenommen. Das Bürgergeld war eine bessere Lösung, die jetzt leider wieder zurückgenommen wird. Gleichzeitig hat sich die Wohnungslage enorm verschlechtert, bis hinein in die Mittelschicht. Ich selbst bin der Meinung, Veränderung muss von außen und innen geschehen: außerhalb des Systems, indem wir die Öffentlichkeit auf unsere Belange aufmerksam machen – und innerhalb des Systems im Kontakt mit Entscheidungsträgern. Wichtiger, als Geld in Rüstung zu stecken, ist meiner Meinung nach, die vorhandenen Ressourcen dorthin zu leiten, wo sie wirklich gebraucht werden: zum Beispiel in Wohnungen. Wichtig bei allen Entscheidungen ist doch immer, die Menschen zu fragen, die von Entscheidungen direkt betroffen sind. Der ganze Paternalismus und das »Wir meinen es nur gut mit Euch« muss endlich Historie sein.
Am 24. März haben Sie für Ihr jahrelanges ehrenamtliches Engagement das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht bekommen. Was bedeutet dieser Preis für Sie und das Netzwerk?
Für mich persönlich war es eine Überraschung: Ich musste es erst mal verarbeiten, dass es kein Gag von irgendjemandem ist, sondern Realität. Der Preis soll ein Zeichen setzen, dass man »belohnt« wird für sein Engagement. Das macht sich bemerkbar: Wenn man die Ehrennadel ansteckt, begegnen einem die Menschen mit mehr Respekt. Das hilft auch politisch. Aber es ist noch alles zu frisch, um zu analysieren, was der Preis für das Netzwerk bedeutet.
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