Thomas Müntzer: »Der Bauernkrieg in seiner größten Gestalt«

Der Mythos Thomas Müntzer spielte im deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat eine bedeutende Rolle. Aber wofür brauchte die DDR den Theologen?

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 14 Min.
Das monumentale Panoramabild Werner Tübkes zum Bauernkrieg mit dem Titel »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland« ist paradoxerweise gerade ein Hinweis darauf, dass Thomas Müntzer in der späten DDR keine große Rolle mehr spielte.
Das monumentale Panoramabild Werner Tübkes zum Bauernkrieg mit dem Titel »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland« ist paradoxerweise gerade ein Hinweis darauf, dass Thomas Müntzer in der späten DDR keine große Rolle mehr spielte.

»So nit, Brüder!«, ruft der Prediger im Wirtshaus und greift ein ins Handgemenge. Die Reisigen des Grafen von Mansfeld suchen nach einem aufrührerischen Bergknappen – eine der vielen Schlüsselszenen im Defa-Film über Thomas Müntzer von 1956, den der MDR unlängst in seiner ursprünglichen Fassung zeigte. »So nit, Brüder! Durchs Wort ward die Welt erlöst. Durch Christi Wort!« – »Ordnung muss sein!«, rufen die Häscher. Daraufhin ruft Müntzer, überaus charismatisch gespielt von Wolfgang Stumpf, einem heute vergessenen westdeutschen Bühnenschauspieler, aus: »Und ich sag, Ordnung muss erst werden! Ist es … nach Christi Ordnung, wenn der Große dem Kleinen Ehre, Recht und Brot nimmt? Und sodann der gemeine Mann sich wehret, gleich wird er gestriemt und gebunden.« Mögen die einen in diesem Film ein Stück Propaganda erkennen über einen Protokommunisten in der DDR-Vorgeschichte, so sehen andere einen leidenschaftlichen Monumentalfilm, der noch heute sein Publikum in den Bann zieht. Und vielleicht stimmen auch beide Einschätzungen.

Monumentale Ideologie

Was der Film zweifelsfrei ist: »ein enormes Prestigeprojekt der jungen Defa«, wie der Historiker Thomas T. Müller, Vorsitzender der Thomas-Müntzer-Gesellschaft, sagt. Der bis dahin teuerste und erste vollständig in Farbe gedrehte DDR-Film sollte mithalten mit den großen Sandalenfilmen, die damals in Italien gedreht wurden. Ein unglaublicher Aufwand sei betrieben worden, ganze Kasernen der Volkspolizei habe man leergeräumt, ebenso etliche Schwesternschulen. »Die mussten alle dorthin und als Statisten arbeiten«, erklärt Müller. Die Dreharbeiten seien in Frankenhausen und an anderen Originalschauplätzen erfolgt, wo dann angeblich auch die eine oder andere Ehe gestiftet worden sei.

Welche Bedeutung die staatliche Seite dem Projekt beimaß, wird daran ersichtlich, dass von Beginn an allerhöchste Stellen in die Planung involviert waren. Am 1. Juli 1953, während einer Sitzung beim Staatlichen Komitee für Filmwesen, erklärte laut Protokoll Hermann Axen, der für die Defa verantwortliche Sekretär des SED-Zentralkomitees, dass es sich hierbei »um den politisch und ideologisch bedeutendsten Film (außer dem ›Thälmann‹-Film) handelt«. An anderer Stelle heißt es von ihm: »Wir machen einen Film über den Bauernkrieg in seiner größten Gestalt. Dazu gehört auch, zu zeigen welche gewaltigen Kräfte das Volk hat. Das ist besonders wichtig, weil seitdem die deutschen Bauern nie eine solche Kraft entwickelt hatten.«

Kaum ein anderes Werk auf Zelluloid dürfte die DDR so geprägt haben wie Martin Hellbergs Thomas-Müntzer-Film. Und kein Geringerer als der Dichter Friedrich Wolf (»Kunst ist Waffe«) hatte das Szenarium geschrieben. Im Kampf gegen die Obrigkeit, von der Luther sagte, sie sei gottgewollt, erscheint Müntzer als Visionär, dessen Zeit noch nicht gekommen war. Das Publikum sollte erkennen: Hätten die Bauern und Bergknappen nur zusammengehalten und keine verräterischen Elemente in ihren Reihen geduldet – sie wären siegreich gewesen. Und noch auf dem Schafott ruft Müntzer den Menschen zu: »Und so wie enden wird die Fürstenmacht, wird ein Reich der Gerechtigkeit aufblühen wie goldener Weizen – für den gemeinen Mann, durch den gemeinen Mann!« Dies war denn auch die Botschaft: Nur im vorgeblich ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden war dieses Ziel Wirklichkeit geworden; der Boden war gerecht verteilt und der Sozialismus im Aufbau.

In der DDR waren Schulen und Straßen nach Müntzer benannt, ebenso Brigaden und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, und ein fiktives Porträt von ihm illustrierte ab 1975 den Fünf-Mark-Schein der DDR-Währung. Der Mythos um den vermutlich 1489 in Stolberg im Harz geborenen Theologen war aber beileibe keine SED-Erfindung. Schon Friedrich Engels, Karl Kautsky und Ernst Bloch hatten in ihm einen Ahnherrn der sozialistischen Bewegung gesehen. In Hellbergs Film zieht sich der Ruf nach »evangelischer Freiheit« allerdings wie ein roter Faden durch die Handlung. Wie erklärt sich das? War doch die SED zu allen Zeiten bemüht, die Kirchen an den Rand der DDR-Gesellschaft zu drängen. Friedrich Wolf, der von den Nazis mit seiner Familie ausgebürgerte Schriftsteller, war als überzeugter Kommunist durch und durch Atheist. Hätte für ihn religiöser Glaube nicht »falsches Bewusstsein« sein müssen?

Staat und Kirche in der DDR

Während die Planungen zum Müntzer-Film anliefen, hatten die Genossen gerade mit Ach und Krach den Volksaufstand vom 17. Juni überstanden. Und mit der im Film beschworenen »evangelischen Freiheit« war es nicht weit her. Noch kurz zuvor, am 9. April 1953, hatten sich die evangelischen Bischöfe der DDR-Landeskirchen genötigt gesehen, einen Brief an den Chef der Sowjetischen Kontrollkommission, Armeegeneral Tschuikow, zu schicken. In dem Schreiben war die Rede davon, dass im Land ein »Kirchenkampf großen Ausmaßes« begonnen habe. Unter Federführung Erich Honeckers, des damaligen FDJ-Chefs, war 1952/53 mit ganzer Hilfe des SED-Machtapparats der systematische Kampf gegen die evangelische Jugend- und Studentenarbeit geführt worden. 3000 christliche Schüler und 2000 Studenten waren relegiert worden, hatten ihren Schul- beziehungsweise Studienplatz verloren. Etwa 70 Theologen und Jugendleiter hatte man verhaftet, es war zu Schauprozessen gekommen. Einrichtungen der Diakonie waren beschlagnahmt worden und so weiter.

Die Kirche erhob schwere Anschuldigungen gegenüber dem Generalstaatsanwalt der DDR: Mit den Angriffen auf die Junge Gemeinde seien »die in der Deutschen Demokratischen Republik geltenden Gesetze gröblich verletzt worden«. Artikel 6 Absatz 1 der Verfassung der DDR bestimme, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleichberechtigt seien. In Artikel 41 werde jedem Bürger die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit zugesichert und die ungestörte Religionsausübung unter den Schutz der Republik gestellt. Damit hatten die Kirchen nicht unrecht, von der DDR-Justiz aber bekamen sie kein Recht.

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Die Kirchen in der SBZ/DDR waren die einzige gesellschaftliche Massenorganisation, die sich dem staatlichen Allmachtsanspruch zu entziehen wusste. In der Entstehungszeit des Müntzer-Films, den Jahren 1953 bis 1956, fühlte sich die evangelische Kirche noch in der Lage, der SED offen zu widersprechen. Das tat sie mitunter aber auch aus sehr fragwürdigem Anlass, wie beispielsweise beim Protest der Kirchen ab 1954 gegen die Einführung der Jugendweihe. Als der Müntzer-Film dann 1956 in den DDR-Kinos anlief, dürfte im selben Jahr der sogenannte »Benjamin-Erlass« die wenigsten Pastoren im Land überrascht haben. Justizministerin Hilde Benjamin legte in der Rundverfügung 2/56 vom 10. Februar 1956 fest, dass der Staat nunmehr keine Beiträge mehr für Parteien, Massenorganisationen und Religionsgemeinschaften einziehen dürfe. Fortan waren die Kirchen gezwungen, ihre Gelder selbst zu akquirieren, wobei die jährlichen Staatsleistungen in sieben- bis achtstelliger Höhe auch weiterhin an die Kirchen gezahlt wurden. Dennoch bedeutete die neue Regelung für die Kirchen nicht nur einen erheblichen Verwaltungsaufwand, sondern auch einen empfindlichen Rückgang der Einnahmen, war doch die Kirchensteuer fortan keine Steuer mehr, sondern ein privater, rechtlich nicht einklagbarer Beitrag. In der Folge kühlte das Staat-Kirche-Verhältnis auf allen Ebenen der Gesellschaft spürbar ab. Die Gründe dafür sind aber nicht nur in der DDR zu suchen.

Die Kirchenpolitik der SED war immer eng mit ihrer Deutschlandpolitik verbunden. Ihre kirchenfeindliche Haltung der 50er Jahre war daher auch ein Reflex auf den enormen Antikommunismus der Adenauer-Regierung und vieler EKD-Synodalen. Als Hellbergs Müntzer-Film 1956 Premiere feierte, führte im anderen Teil Deutschlands Bundeskanzler Konrad Adenauer die Wehrpflicht ein; im Jahr zuvor war die Bundesrepublik bereits der Nato beigetreten. Da fortan beide deutschen Staaten unterschiedlichen militärischen Machtblöcken angehörten, schien die deutsche Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt zu sein. Im selben Jahr war auch der erste Entwurf des Militärseelsorgevertrags publik geworden. Die EKD ernannte ihren seit 1950 amtierenden Bevollmächtigten bei der Bonner Regierung, Hermann Kunst, zusätzlich zum Militärbischof.

Zum Kirchentag vom 8. bis 12. August 1956 in Frankfurt am Main hatte Kirchentagspräsident Reinold von Thadden den stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Otto Nuschke zwar eingeladen, ihm und seiner Delegation aber die Teilnahme am offiziellen Kirchentagsempfang im Römer sowie einen Platz auf der Ehrentribüne verweigert. Hinzu kam die Unterbringung im vierten Stock einer Fabrik, die angeblich zur Pension umgebaut worden war. Mit Menschen, die man braucht, mit denen man um einen politischen Kompromiss ringt, geht man anders um. Vor solchem Hintergrund wundert es nicht wirklich, dass die DDR-Regierung im Jahr darauf den Abschluss des Militärseelsorgevertrags der EKD mit der Adenauer-Regierung (den die EKD-Synode unter voller Beteiligung der Synodalen aus der DDR in geheimer Abstimmung ratifizierte) zum Anlass nahm, ihre Beziehungen zur EKD abzubrechen.

Noch einmal zur Wiederholung: Im selben Jahr wird im DDR-Kino nach »evangelischer Freiheit« gerufen! Dass diese Steilvorlage seitens der Kirchen ungenutzt blieb, zeigt deutlich, wie tief Pfarrer und Bischöfe damals noch im lutherischen Denken verankert waren, einschließlich Luthers Dämonisierung Müntzers als »Satan von Allstedt«.

Der Mythos Müntzer

Der SED-Staatsapparat bezog seine Autorität nie aus freien Wahlen. Weil Kommunisten wie niemand anders den Faschismus bekämpft und einen hohen Blutzoll gezahlt hatten, beanspruchte die Führung der Einheitspartei ein historisches Recht auf die Regierungsgewalt. Doch bis zum Mauerbau im August 1961 sollten wenigstens rund 2,8 Millionen DDR-Bürger über diese Regierung abstimmen – mit den Füßen … Ein Votum gegen Partei und Politbüro, die sich ähnlich dem Gottesgnadentum durch eine höhere Macht legitimiert wähnten, durch den angeblich gesetzmäßigen Verlauf der Weltgeschichte.

Allerdings: Ohne diesen antifaschistischen Gründungsmythos wäre die DDR nur ein Staat von Stalins Gnaden gewesen. Die antifaschistische Staatserzählung war folglich viel zu schwach und entwickelte in der Gesellschaft der SBZ/DDR kaum Strahlkraft, war doch im Mai 1945 auch das deutsche Proletariat von der Roten Armee besiegt worden. Bis zum letzten Tag hatten die späteren DDR-Bürger und -Bürgerinnen ihrem »Führer« die Treue gehalten. Bis zum bitteren Ende hatten sie die Reichshauptstadt Berlin verteidigt. Anders als es der Parteimarxismus verhieß, waren die Kommunisten nicht durch eine Revolution an die Macht gekommen.

Daher brauchte die SED neben dem Gründungsmythos vom Aufbauwerk deutscher Antifaschisten noch einen ergänzenden Mythos, eine Traditionslinie, die in ihrer Konstruktion weiter zurückreichte. Bei der Suche danach, sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, sei man auf zwei historische Vorgänge gestoßen. Zum einen den Bauernkrieg, der einschließlich Reformation vom Historiker Alfred Meusel »frühbürgerliche Revolution« genannt wurde, zum anderen »sagen wir mal großzügig: die preußisch-russische Waffenbrüderschaft im Kampf gegen Napoleon«.

Thomas Müntzer

Ein Regenbogen war sein Zeichen auf weißer Fahne, darunter die Worte »verbum domini maneat in etternum« (»das Wort des Herrn bleibe in Ewigkeit«) und »das ist das Zeichen des ewigen Bundes Gottes«. Geboren wurde Thomas Müntzer vermutlich im Dezember 1489 in Stolberg Harz und seine Eltern waren wohlhabend genug, ihm ein Theologiestudium zu finanzieren. Stationen seines Wirkens waren unter anderem Zwickau, Prag, Allstedt und Mühlhausen. Einen »mörderischen und blutgierigen Propheten« nannte ihn Martin Luther. Thomas Müntzer steht für den linken Flügel der Reformation, wonach nicht nur die Kirche, sondern die ganze Gesellschaft reformiert werden sollte – also in die angeblich ursprünglich von Gott gewollte Form gebracht. Sein Denken und Predigen ließ ihn mit der Lebenswelt der Bauern in Berührung kommen, deren Anführer er am 15. Mai 1525 war: an jenem Tag als sich am Himmel von Frankenhausen ein Regenbogen um die Sonne schloss und das Fürstenheer 6000 Menschen massakrierte (und dabei selbst nur sechs Tote zu beklagen hatte). Thomas Müntzer wurde gefangen genommen, gefoltert und am 27. Mai 1525 vor den Toren Mühlhausens hingerichtet. Karsten Krampitz

Professor Münkler ist seit ein paar Jahren emeritiert. Für den Autor aber, der ihn daheim in Halensee besucht, hat er nicht viel Zeit. Er sagt, beide Erzählungen sollten den Umstand überdecken, dass die Deutschen mit ihren Revolutionen grundsätzlich kein Glück gehabt hatten, weder 1848 noch 1918/19. »Und dann hat man sozusagen diese frühe bürgerliche Revolution aus dem Hut gezaubert«, sagt Münkler, »die allerdings in vieler Hinsicht doch eher eine Konstruktion war, als dass sie tatsächlich tief gegriffen hat und überzeugend war.« Waren es doch hauptsächlich Bauern und Bergknappen, die den Aufstand getragen hatten, in der damaligen Zeit also im eigentlichen Sinne keine Bürger. Lyndal Roper, Geschichtsprofessorin in Oxford, sieht das ähnlich. Das Müntzer-Bild der DDR sei marxistisch geprägt gewesen, wobei der klassische Marxismus unfähig gewesen sei, sich eine revolutionäre Bauernschaft vorzustellen. »Marx und Engels müssen sich irgendwie damit abfinden, dass es die Bauern waren, die gegen die bestehende Ordnung gekämpft haben und nicht die frühbürgerliche Klasse.«

Dran! Dran! Dran!

In Martin Hellbergs Müntzer-Film erscheint noch eine andere Szene voller Pathos: »Rette meine Schriften!«, ruft der gequälte und erschöpfte Müntzer seiner Frau zu, was Ottilie dann auch gelingt. In der Schlussszene liest ein gewisser Schwabenhannes – im Übrigen unter schwarz-rot-goldener Fahne! – Müntzers Vermächtnis vor: »Liebe Brüder! Wir dürfen nit länger schlafen! Der Meister will sein Spiel machen. Die Bösewichter müssen Dran! Dran! Dran!«

Tatsächlich hatte entweder Philipp von Hessen oder Herzog Georg von Sachsen Müntzers Briefe und Dokumente an sich genommen, die dann später im Dresdner Archiv, einem Wunder gleich, die Bombardierung der Stadt im Februar 1945 überstanden. Doch »Müntzers Enkel«, als solche verstanden sich die SED-Genossen, verschenkten dessen Originalhandschriften an Stalin. Ein Präsent mit vielsagender Widmung: »Dem Freund des deutschen Volkes, dem weisen Führer des Sowjetvolkes, zu seinem 70. Geburtstag. 21. Dezember 1949. Deutsche Demokratische Republik, Landesregierung Sachsen.« Bis heute lagert die Sammlung der Briefe und Dokumente Müntzers im Moskauer Archiv. Vermutlich hatten die sächsischen Genossen keinerlei Kenntnis vom theologischen Inhalt ihres Geschenks. In seinen Schriften erscheint Müntzer als Endzeitprophet par excellence: Die Gottlosen werden »vom Stul« gestoßen und die Niedrigen erhoben. »Engel mit langen Spießen« trennen am Jüngsten Tag die Guten von den Bösen. Und vor allem: »Gott verachtet die großen Hansen«. – Das »geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg«, wie Müntzer seinen Widersacher Luther nannte, sah das dezidiert anders …

Martin Luther, der sich den Fürsten angedient hatte, stand dem Politbüro ideologisch viel näher als der Aufrührer Thomas Müntzer.

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»Jedermann sei untertan der Obrigkeit« (Römer 13), so eine zentrale Botschaft in Luthers Übersetzung des Neuen Testaments. »Frösche müssen Störche haben«, lautet denn auch ein bekanntes Aperçu aus seinem Mund. Der einstige Augustinermönch hatte das Denken der Menschen aufgespalten, in zwei Reiche, in eine jenseitige und eine diesseitige Welt. Heil und Erlösung gab es im Himmel, auf Erden aber hatten Christen der Obrigkeit Untertan zu sein. Müntzer akzeptierte diese Bewusstseinsspaltung nicht. Nicht nur die Kirche, sondern Gottes Volk sollte auf den Weg des Allmächtigen gebracht werden, jedoch nicht als Diener oder Leibeigene. Der Theologe Müntzer hielt es mit der Verheißung des Alten Testaments: Gerade, weil die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft nicht als Sklaven leben wollten, konnten sie auf Gottes Hilfe vertrauen.

Der Kult um Thomas Müntzer erlangte in der DDR nie die gleiche Bedeutung wie etwa das Gedenken an den von den Nazis ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann. So erklärt sich auch, dass ein Künstler wie Werner Tübke von der Zensur unbehelligt blieb für sein apokalyptisches Bauernkriegspanorama, entstanden in den Jahren 1976 bis 1987 und »eines der gewaltigsten und kleinteiligsten, der größenwahnsinnigsten und sperrigsten Gemälde, die jemals geschaffen wurden«, so Sven Behrisch in »ZEITGeschichte«. Hätte Tübke ein ähnliches Gemälde über den Arbeiterführer »Teddy« Thälmann angefertigt, hätte er die Vernissage wohl in München oder Westberlin feiern müssen. Dass sein epochales Wimmelbild – immerhin 14 Meter hoch und 123 Meter lang, mit rund 3000 Figuren – von der DDR geduldet und sogar finanziert wurde, zeigt an, das Thomas Müntzer während der Honecker-Ära nicht mehr das Gewicht zukam wie unter Ulbricht. Das Müntzer-Bild der späten DDR war ein anderes, wie auch das Leben, das sich freizügiger gestaltete. Die alten Ideale aber hatten sich abgeschliffen.

Überhaupt war die SED eigentlich eine konservative Kraft. Martin Luther, der sich den Fürsten angedient hatte, stand dem Politbüro ideologisch viel näher als der Aufrührer Thomas Müntzer, der von der Obrigkeit lange Zeit gefordert hatte, sich in den Dienst der christlichen Gemeinde zu stellen. In der Honecker-Ära war Müntzer eine Tradition, die nach und nach an Bedeutung verlor. Luther aber war ein Erbe, das die Partei beanspruchte, daher auch 1983 das große Spektakel zu Luthers 500. Geburtstag.

Geteilter Geist im geteilten Land

Einige Jahre zuvor war Martin Hellbergs Müntzer-Film noch einmal in die Kinos gekommen, allerdings in einer radikal geschnittenen Fassung: Nicht nur der Schwabenhannes fehlte und damit, wie es Alexander Fleischauer in seiner Dissertation schreibt, das Symbol für die gesamtdeutsche Wirkung Müntzers. »Aber auch Müntzer selbst tritt nicht mehr als nationale Heilsfigur auf«. Der Satz »Lasst uns den Brüdern überm Main die Hand reichen!« war gleich viermal herausgeschnitten worden. Auch endete der Film nicht mehr unter der schwarz-rot-goldenen Fahne beim Waldshuter Haufen, wohin sich Müntzers Frau mit dem gemeinsamen Kind gerettet hatte, sondern auf dem Schafott vor Mühlhausen. Das Pathos seiner letzten Worte »für den gemeinen Mann, mit dem gemeinen Mann«, erschien noch mehr als Bekenntnis zum DDR-Sozialismus.

Wie zu Luthers Zeiten lebten auch in der DDR viele Menschen mit einer gespaltenen Persönlichkeit. Heino Falcke, früher einmal Propst in Erfurt, spricht vom »DDR-Syndrom«: »der in äußerer Anpassung und innerer Verweigerung gespaltene Mensch«. Ob in der Parteiversammlung, im FDJ-Studienjahr oder in der Berufsschule, an der Uni und auf der Arbeit – die Menschen dachten und redeten hier völlig anders als im privaten Bereich. Diese Grundhaltung, sagt Falcke, genährt durch zahlreiche Frustrationserfahrungen und das Wunschbild von der westlichen Überflussgesellschaft, sei im November 1989 mit Macht an den Tag gekommen, habe sich auf der Straße manifestiert und eine neue Realität geschaffen.

Zuvor aber traf sich im Januar desselben Jahres das Thomas-Müntzer-Komitee im Staatsratsgebäude. Ein Termin, bei dem sich Erich Honecker vor versammelter Presse zur fast schon legendären These hinreißen ließ, dass die Mauer noch in fünfzig und in hundert Jahren stehen werde. Der Rest ist Geschichte. Längst hatte sich die SED-Führung so weit von der Wirklichkeit entfernt wie von Thomas Müntzer.

Karsten Krampitz u. Albert Scharenberg (Hg.): »Dran! Dran! Dran!« Thomas Müntzer, der Bauernkrieg und die Entblößung des falschen Glaubens. Alibri-Verlag, 160 S., br., 15 €.

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