Verdichtung und Zerfall

Das Kunstwerk des Monats: Maximale Offenheit mit Gritli Faulhaber

  • Thorsten Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Gritli Faulhaber: »Militant Joy (43)«, Öl auf Leinwand, 30 auf 40 Zentimeter, 2024
Gritli Faulhaber: »Militant Joy (43)«, Öl auf Leinwand, 30 auf 40 Zentimeter, 2024

»Seek the extremes, that’s where all the action is.« Dieses Zitat der US-amerikanischen Malerin, Konzept- und Performance-Künstlerin Lee Lozano steht auf einem Gemälde von Gritli Faulhaber. Lozano, die sich nach einer kurzen, aber umso intensiveren Karriere vom Kunstbetrieb abwandte, gilt als Artist’s Artist – eine, die es wissen wollte und damit auch andere Künstler*innen anspornt.

Faulhabers künstlerische Arbeit ist reich an Referenzen auf die feministische Kunstgeschichte. In ihrer Malerei entfaltet sie ein dichtes Geflecht aus Bildzitaten, visuellen Verweisen und Anspielungen und spinnt daraus ein konzeptuelles Hyperimage – eine hybride malerische Montage aus vielfältigen Bildfragmenten. Kein Bild steht für sich allein, alles weckt Assoziationen, schießt über sich hinaus, verlangt nach mehr Wissen und Erfahrungen. Ihre Malerei bricht mit Gattungskonventionen und setzt sich über Widersprüche hinweg. Medienreflexion und Emanzipation gehen Hand in Hand. Dennoch kippt diese fordernde, neugierige Kunst nicht in die gelehrte Pose, die sich in der belehrenden Zurschaustellung kunsthistorischen Wissens erschöpft.

Faulhabers Malerei behält etwas Vorläufiges, Skizzenhaftes, Tastendes, Suchendes und dabei auch Unaufgeregtes. Als ob die Leinwände mit all den gemalten Fragmenten und Bezügen direkte Erweiterungen der Skizzenbücher und Arbeitshefte der Künstlerin wären. Private Fundstücke, Anregungen zum Weiterarbeiten. »Now I’m able to paint what you have processed photographing« – ein Zitat der Künstlerkollegin Maximiliane Baumgartner – steht auf einer anderen Arbeit, als wäre das Dargestellte nur ein bescheidener Schritt, um zu klären, was diese Malerei vermag. Nicht die Geste vollendeter Meisterschaft, sondern eine Malerei im Werden, ein Lernprozess gibt sich zu erkennen. »Weshalb wir nun eine große Lücke lassen, die als Hinweis genügen muss, dass diese Stelle bis zum Rand gefüllt ist«, heißt es in Virginia Woolfs »Orlando« (1928). Vergleichbare Großzügigkeit zeichnet auch Faulhabers sensiblen Umgang mit dem Bildraum aus.

Kunstwerk des Monats

Für Goethe ist die Kunst »eine Vermittlerin des Unaussprechlichen«. Was ist daran bewegend, was politisch? Das erklären wir an einem aktuellen oder historischen Beispiel: Das Kunstwerk des Monats.

Somit erscheint auch das erwähnte Zitat von Lee Lozano in einem anderen Licht. Nicht die Extreme transgressiver Grenzüberschreitung, im Exzess, mit aller Gewalt, werden gesucht, vielmehr geht es um eine maximale Offenheit, die überall ihren Reiz und neue Sensationen findet. Da die Welt von »starken Männern« in Politik und Wirtschaft dominiert wird, kann dies kaum zu hoch geschätzt werden. »Militant Joy«, wie Faulhaber eine ihrer fortgeführten Serien benennt. Diese extrem reduzierten kleinformatigen Arbeiten entstehen in wiederkehrenden Phasen, in denen der künstlerische Handlungsraum äußerst eingeschränkt ist. Die Künstlerin lebt mit ME/CFS, einer schweren neuroimmunologischen Erkrankung. Die Fähigkeit, so zu malen, wird zur Selbstbehauptung gegenüber dem eigenen Körper. Als ginge es darum, trotzig zu sagen: »Now I’m able to paint what you will never process photographing.«

Diese Bilder jedoch allein aus dem Zustand der Krankheit zu erklären, wäre verkürzt. Sie sind weit mehr als die Dokumentation von Ablenkungsmanövern oder Bewältigungsstrategien. Das sind sie auch, aber eben nicht nur. Wer mehrere Gemälde der Serien nebeneinander sieht, wie es bis vor Kurzem im Neuen Essener Kunstverein möglich war, erkennt bald die feinen Unterschiede. Nicht alles funktioniert gleich. Nicht überall ist die gleiche Spannung zu sehen. Aus Flecken, Tupfern, Punkten, Strichen und allerhand Spuren ergibt sich ein reiches Spektrum rudimentärer malerischer Gesten. Manches verdichtet sich, anderes zerfällt. Hier erscheint eine Ordnung, dort wiederum nicht. »Ja, die Malerei, der Akt des Malens verläuft über das Chaos oder die Katastrophe«, wie Gilles Deleuze in seinen Vorlesungen »Über Malerei« (1981) bemerkte, die Anfang des Jahres auch in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Deleuze fragte sich auch: »Was geschieht, wenn nichts daraus hervorgeht, wenn die Katastrophe sich ausbreitet, wenn das zu einem Brei wird? Hat man in bestimmten Fällen nicht den Eindruck, jawohl, das Gemälde misslingt? Es kommt immer wieder vor, dass Maler scheitern, ihre Gemälde in die Ecke werfen – höchst erstaunlich das Ganze.« Für den Philosophen wird die Auseinandersetzung mit Malerei zu einem Nachdenken über Sinn und Sinnlosigkeit. Die Malerin Maria Lassnig hat es so beschrieben: »Die Ausformung des Bildes wird in Unruhe hin und her gezerrt, bis es an dem geheimnisvollen ›Punkt der Gewissheit‹ zur Ruhe kommt.«

Dass Maler*innen ein gesteigertes Interesse an einer »Philosophie der Malerei« oder zumindest einem intensiven Nachdenken über ihre eigene Praxis haben, um sie mit Sinn und Bedeutung zu erfüllen, ist nachvollziehbar. Was aber darüber hinaus können geneigte Zeitungsleser*innen aus derlei Betrachtungen ziehen? Die Kunstgeschichte ist voll von gelehrten Interpretationen, die sich in selbstverliebtem Eskapismus eingerichtet haben. Überzeugte Beschwörungen einer Politik der Kunst sind oft nicht viel überzeugender. Und auch die »Militant Joy«, »alles zu können und alles zu dürfen«, wie es die Verfechter*innen einer rigorosen Kunstfreiheit einklagen, ist Symptom eines gekränkten Liberalismus. Warum sich dann noch intensiver der Kunstberatung widmen? Vielleicht dann doch, um nicht kirre zu werden in dieser verrückten Welt.

Oder auch um das Zaudern zu üben: »um Situationen und Umstände« zu erfahren, »die deshalb zeichenhaft werden, weil in ihnen das Tun wie dessen Weltbezug wenigstens für Augenblicke problematisch geworden sind«, wie Joseph Vogl schreibt. Vielleicht hilft es, das eigene Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen weiter zu sensibilisieren, um dem postfaktischen Zynismus ringsherum zu begegnen. Faulhabers Malerei bietet die Möglichkeit, der kapitalistischen Zweckrationalität zumindest für einige Momente zu entkommen. Das kann nicht alles sein, ist aber auch nicht nichts.

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