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Der unbekannteste Superstar: Ingvar Ambjørnsen

Den anderen verstehen, ohne ihn zu verurteilen: Zum Tod von Ingvar Ambjørnsen

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 7 Min.
Das »Normale« wird überschätzt – falls es überhaupt existiert. Mit diesem Ansatz war Ingvar Ambjørnsen ein Vorbild.
Das »Normale« wird überschätzt – falls es überhaupt existiert. Mit diesem Ansatz war Ingvar Ambjørnsen ein Vorbild.

Bis weit in die 80er Jahre gab es in Westdeutschland eine florierende Stadtzeitungsbewegung. Dort fand meine journalistische Sozialisation statt. Studieren durfte ich nicht, schreiben konnte ich, was fehlte, war die Praxis. Ich heuerte bei der »Stadtzeitung« in Braunschweig an. Geld war dort nicht zu verdienen, aber ich konnte viele wichtige Erfahrungen sammeln. Auf meinem roten R4 prangte eine Friedenstaube, das war damals Zeitgeist und nicht der einzige Aufkleber. Die Fahrertür machte großflächig Werbung für unsere Zeitung. Ein ganzer Stapel dieser Aufkleber lag in der Redaktion herum, niemand sonst benutzte sie.

Einmal im Monat flatterten praktisch alle westdeutschen Stadtmagazine auf den Redaktionstisch, der sich in einem geräumigen Kellerverlies in einem bürgerlichen Viertel befand, das uns ein Sympathisant mietfrei zur Verfügung stellte. Täglich kamen massenweise Bücher. Etwa die Krimis von Doris Gehrke, von denen wir regelmäßig Vorabdrucke bringen durften. Auf diese Weise stieß ich auf Autoren, die mir nicht oder wenig bekannt waren, beispielsweise Michael Wildenhain (»Die kalte Haut der Stadt«), Richard Kalich (»Die Kreatur«), Bert Papenfuss-Gorek (»dreizehntanz«) – und auf einen gewissen Ingvar Ambjørnsen, Dieser Norweger hatte den »San Sebastian Blues« (Romantitel). Er bis heute der unbekannteste Superstar der BRD.

Auf dem Innencover-Foto dieses Buchs aus der Edition Nautilus guckte ein Schlacks herausfordernd mit einer Zichte. Ambjørnsen sah aus wie einer aus der mofafahrenden Rauchereckenclique der Hauptschule Cranachstraße in Wolfenbüttel. Ich besuchte dort die Realschule, aber in den Pausen war ich oft da drüben. Mofa hatte ich keins, ich rauchte auch noch nicht, aber diese Leute waren mir einfach sympathischer.

Hätte ich nicht mein Herzblut für die »Stadtzeitung« gegeben, womöglich wäre ich niemals auf diesen fantastischen Autor gestoßen. Er hat viele meiner Generation geprägt wie kaum ein anderer. Damit wir uns richtig verstehen: Ich meine hier die Handvoll Prozent an Schreibenden, die immer schon das Abseitige gesucht und deshalb auch gefunden haben. Man wusste nicht, dass es existierte, aber man hatte die Sehnsucht danach. Wer sucht, findet. Immer.

Ingvar Even Ambjørnsen-Haefs ist am vergangenen Sonnabend in Norwegen 69jährig gestorben, wie sein Verlag Cappelen Damm am Sonntag bekanntgab. 2009 war bei dem »langjährigen Raucher« die chronische Lungenerkrankung COPD festgestellt worden. Seine Frau, die berühmte Übersetzerin und Autorin Gabriele Haefs, hatte jahrelang einen 24/7-Job, sie ermöglichte ihm, bedingt weiterarbeiten zu können. Zum Beispiel auf seinem Blog, wo er seinen schleichenden Tod ohne Dramatismus und mit derselben Klarheit und Ehrbarkeit, die auch sein Werk auszeichneten, an seine Follower weitergab. Nicht ganz so extrem wie Christoph Schlingensief, aber schon sehr ehrlich.

Der 1956 in Tønsberg geborene und in Larvik (Kleinstadt an der norwegischen Südküste) aufgewachsene Ambjørnsen wollte immer schon Schriftsteller werden. Mit 25 habe er davon leben können, meinte er, ab da erschienen in Norwegen seine Bücher. Als Hausbesetzer war er Teil der Osloer Subkultur, er arbeitete nebenbei als Gärtner, Schriftsetzer und in der Psychiatrie. Sein literarisches Vorbild war Jens Bjørneboe, der »Godfather« der norwegischen Gegenkultur der 70er Jahre. Im April 1985 zog er nach Hamburg, zu seiner späteren Frau Gabriele Haefs. Als er losfuhr, war er nicht allein: Im selben Schlafwagenabteil saß ihm sein Kumpel, der 19-jährige Schriftsteller Erik Fosnes Hansen, gegenüber, der allerdings nach Stuttgart unterwegs war.

Im Jahr darauf erschien im Buntbuch-Verlag Ambjørnsens erster Roman auf Deutsch, »Sarons Haut«, und bei Cappelen »Hvite niggere« (Weiße Nigger), ein Roman über Ausgeflippte, Glückssucher und Aussteiger, vor allem aber über die drei Provinzfreunde Erling Haefs, Charlie Lie und Rita Tunberg. Es ist eines dieser Bücher, die Leben retten können: »Danach war ich in Oslo quasi eine Berühmtheit. Norwegen ist ja eigentlich eine Kleinstadt.« In Deutschland erschien es 1988 bei Edition Nautilus, die einen Teil von Ambjørnsens Frühwerk publizierte. 1993 erschien dort auch »Das goldene Vakuum«, eher essayistisch gehalten und sich dem Unzuverlässigen Erzählen annähernd. Ein namenloser Ich-Erzähler, ein Schriftsteller in der Krise, bekommt seine Lebensangst und Panikattacken nicht in den Griff und versucht, sich symbolisch seines Namens zu entledigen. Ein Motiv, das immer wieder bei Ambjørnsen auftaucht.

Der angedeutete Imagewandel führte schließlich zum Bruch mit Nautilus: Der Verlag mochte den neuen Helden Elling eher nicht. Doch die tragikomische Elling-Tetralogie, hierzulande schließlich bei Piper erschienen, wurde zum Welterfolg. Petter Næss’ Verfilmung war 2002 als bester fremdsprachiger Film für den Oscar nominiert. Befügelt wurde dieser Erfolg durch die von Axel Hellstenius realisierten Adaptionen für die Bühne, insbesondere von »Blutsbrüder«, dem zweiten Teil von Elling, der 2003 in »Schmidts Tivoli« in Hamburg Erstaufführung hatte und anschließend an 50 Theatern gespielt wurde.

2012 kehrte Ambjørnsen mit dem Roman »Den Oridongo hinauf« zu Nautilus zurück. Es ist eine subtile Milieustudie über die Bewohner einer norwegischen Insel. Der Protagonist Ulf Vågsvik hat seinen alten Namen abgelegt, wie auch der namenlose Ich-Erzähler im »Vakuum«, und benimmt sich auffällig, ähnlich wie der Sonderling Elling, den das funktionalistische Menschenbild der Ellenbogengesellschaft, der permanente Verwertungszwang, fertig macht. Unschwer zu erkennen sind Anspielungen auf Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis«. Ist der Oridongo der Kongo? Wichtig ist, das es sich um eine Reise zu sich selbst handelt. Ein Motiv, das der Autor in vielen seiner Bücher bemüht: Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand. Das wird aber nicht mit dem stirnbohrenden Zeigefinger formuliert, sondern mit dem Mitgefühl aus dem Ambjørnschen Universum. In allen Büchern geht es um merkwürdige Menschen, denn das »Normale« wird überschätzt – falls es überhaupt existiert.

Was es gibt, ist ein Lob des einfachen Lebens. In den norwegischen Wäldern spielt der Roman »Die Nacht träumt vom Tag« (2014), durch den unterschwellig Knut Hamsun, Peer Gynt und natürlich der Narr und Faulenzer Henri David Thoreau schwirren. Die Hauptfigur Sune sagt von sich: »Ich bin nur ein Schatten auf Erden; das ist so ungefähr mein Gewicht im großen Zusammenhang, und das will ich auch sein, ein Schatten im großen Zusammenhang, kein Fleischklumpen im kleinen.« Die Schattenmetapher taucht öfter bei Ambjørnsen auf, so auch im Buch »Eine lange Nacht auf Erden« (2013), in dem Protagonist Claes Otto Gedde am Ende in der U-Bahn, nach einem Nickerchen, sinniert: »Es half auch nicht viel, dass er nicht der einzige Dinosaurier war, sie waren viele, und sie waren missgestaltet, aber nur Schatten, halb unwirklich.«

Ambjørnsen hat über 50 Bücher geschrieben, die in 30 Sprachen übersetzt wurden, darunter auch seine legendäre Jugendkrimireihe »Peter und der Prof« und die Kinderbücher über die Freundschaft zwischen einem Hund und einer Katze, »Samson und Roberto«. In den 90er Jahren stellte er mir für meine Zeitschrift »Der Störer« diverse Kurzgeschichten zur Verfügung, allesamt deutsche Erstveröffentlichungen. Später, als ich zeitweilig für die Berliner »Straßenzeitung« arbeitete und ihn um literarische Beiträge bat, lautete seine rasche Antwort: »Nimm, was du willst!« Ingvar wollte Ende der 90er auch eine Novelle in meinem kleinen Verlag Edition Dead Monkey publizieren. Einzige Bedingung: Einen Einband sollte das Buch haben. Dass es letztlich nicht dazu kam, liegt daran, dass auch ich ein Sonderling bin: Meine Mitstreiter zogen nicht mit, ich allein fühlte mich der Verantwortung nicht gewachsen, auch wenn Gabriele Haefs meinte, dass es für so ein Projekt sicher norwegische Fördergelder geben würde.

Ingvar Ambjørnsen war das literarische Sprachrohr der Unsichtbaren, der Vulnerablen, der Marginalisierten. Seine Protagonisten standen nicht für Heldentum, sie kämpften um ihr Daseinsrecht. Den anderen verstehen, ohne ihn zu verurteilen. Sein Leben und seine Worte waren stiller Widerstand: Leben, Schreiben und Lieben von den Rändern aus. Der fünfte Elling-Band, »Echo eines Freundes« (2019) kann und sollte bei Nautilus bestellt werden.

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