Tänzers György Jellinek: Mein Körper – meine Wahrheit

Die Lebensgeschichte des ungarischen Tänzers György Jellinek führt Jugendliche in Mecklenburg-Vorpommern in eine queere Lebenswelt

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: 7 Min.
Wenn die Worte nicht mehr weiterwissen, kann der Körper noch am deutlichsten sprechen. György Jellinek bei »MV tanzt an«.
Wenn die Worte nicht mehr weiterwissen, kann der Körper noch am deutlichsten sprechen. György Jellinek bei »MV tanzt an«.

Er macht sich klein, windet sich, kauert sich zusammen, zieht Arme und Beine ein, als wolle er sich verbergen, unsichtbar bleiben, Zuflucht finden. Aber wohin? György Jellinek klettert die Wand hoch, fällt zu Boden. An seinem blauen T-Shirt befindet sich auf dem Rücken ein großes Blatt Papier. Öffentlich gebrandmarkt durch das Wort »Schwuchtel«.

Was es bedeuten kann, schwul zu sein, bringt Jellinek eindrucksvoll als Tänzer auf der Bühne zum Ausdruck. Seine Bühne sind Klassenzimmer in verschiedensten Schulen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Schleswig-Holstein.

Es ist bereits das sechste Klassenzimmer-Tanzstück, mit dem die Companie Perform(d)ance unter dem Motto »MV tanzt an« unterwegs ist. Das Stück ist für Schülerinnen und Schüler ab der neunten Klasse aller Schultypen gedacht. »Die Kinder und Jugendlichen kommen kaum noch ins Theater«, so der Choreograf des Stückes, Stefan Hahn. »Deshalb gehen wir zu ihnen an die Schulen, um aktuelle, gesellschaftskritische Themen mittels des Tanzes anklingen zu lassen.« Die Herausforderung an dem Stück »Who am I?« sei gewesen, junge Leute nicht zu überfordern, ihnen vorurteilsfrei zu begegnen, sie ernst zu nehmen, sagt Hahn. »Es war der Versuch, eine Verbindung zu finden zwischen der expliziten Realität und der metaphorischen Darstellung, sodass die Aussage noch vermittelbar bleibt.«

Ein Schulranzen, eine Schulbank, ein Stuhl. Das sind die Requisiten im Raum. Der noch am Boden liegende Protagonist richtet sich auf. Zwängt sich ein zwischen Wand, Stuhl und Bank. Enger und enger. Gefangen in sich selbst. Er erscheint hilflos, verzweifelt. Wirkt angeprangert und innerlich zerrissen. Mit ganzer Wucht wirft der Tänzer alles um sich. Die Schulmöbel fliegen durch die Luft. Ein Kampf gegen Anfeindungen, gegen Ausgrenzung, gegen Gewalt.

»Dass meine Sexualität anders ist, ließ ich lange Zeit nicht in mein Bewusstsein«, erinnert sich György Jellinek. »Ich habe mich abgelehnt, sogar gehasst. Alles, was mit Geschlechterzugehörigkeit zu tun hatte, habe ich unterdrückt.« Schon in der Schule wird der Junge gemobbt. »Das war eine schwere Zeit. Es hieß, ich sei kein typischer Mann-Junge.« So versucht Jellinek, sich das damalige Verhalten seiner Mitschüler zu erklären. Später führt ihn die Suche nach einem selbstbestimmten, freien Leben in eine tiefe Identitätskrise.

György Jellinek ist in Budapest geboren, wächst mit zwei Schwestern auf. Die Eltern sind beide suchterkrankt. Die Mutter raucht stark, der Vater trinkt und ist abhängig von Tabletten. »Wir Kinder waren still, um keine Probleme zu machen.« Zugleich geht es auch fröhlich zu in der Familie. »Unser Heim erschien mir oft wie ein Ballsaal, das nahm etwas die Schwere.« Die Eltern sind Tänzer in der Budapester burlesken Theaterszene. Die Mutter erkennt das Talent des Jungen. Sie stellt den damals Zwölfjährigen bei einem Casting der Budapester Ballettakademie vor.

György lacht, gestikuliert mit den zartgliedrigen Händen. Ein kleiner Ring schmückt sein linkes Ohr. »Bis dahin wollte ich gar nicht gern tanzen. Doch als in unserem Ballettsaal neue große Fenster eingesetzt wurden, beobachtete ich, wie draußen ein starker Wind die Zweige der Baumkrone bewegte. Das war ein wunderschönes Bild.« Seine großen Augen strahlen vor Begeisterung. »In diesem Moment verstand ich, was Tanz bedeuten kann. Einen Baum verkörpern. Seine Wurzeln, Verästelungen, dieses Streben zum Licht und zugleich fest am Boden.«

Eines Tages trennen sich die Eltern. Der Vater stirbt sehr früh. Unbewusst werden nun die Rollen vertauscht. Fortan wird sich der Sohn für die Mutter verantwortlich fühlen und die Stellung des Vaters und Ehemannes einnehmen.

»Durch meine Geschichte, durch den Tanz kann ich etwas Gutes in die Welt bringen.«

György Jellinek

»Der Tanz gab mir Struktur. Ich war bereits als Bühnentänzer beim ungarischen Staatsballett beschäftigt und verdiente gut. Ich glaubte, wenn ich mehr und mehr auf der Bühne stehe, kann ich meine Mutter und die Schwestern gut versorgen.« Andere Menschen zu retten, sei das Grundmotiv seiner Existenz, glaubt der Sohn lange Zeit. Er kümmert sich nicht nur um die Mutter, sondern auch um seine krebskranke Schwester. »Zu meinen eigenen Gefühlen und Empfindungen hatte ich keinen Zugang. Seit meiner Kindheit dachte ich immer, durch mich würde etwas Schlimmes geschehen. Noch heute, wenn ich die Straßen entlanggehe, blicke ich auf den Boden, um nur nicht auf ein Insekt zu treten.« Er weiß heute, dass es nicht in seiner Macht steht, den Tumor der Schwester und das Leben der Mutter zu heilen oder gar andere Menschen zu retten. »Doch durch meine Geschichte, durch den Tanz kann ich etwas Gutes in die Welt bringen.«

Der Vorhang öffnet sich. György Jellinek tritt erneut auf die Bühne. Jetzt trägt er ein schwarzes Netzshirt, dieses Mal die Nummer 37 auf seinem Rücken angeheftet. In der Mystik eine Engelszahl, die den Empfänger über eine größere Macht auf den richtigen Weg führe, heißt es.

Feinsinnig bewegt sich der geschmeidige Körper. Eindrucksvoll und berührend die Zerbrechlichkeit, die Sehnsucht und Begehr ausdrückt. Spielerisch neigt sich der Tänzer zu Boden, richtet sich wieder auf: anmutig, zentriert. Öffnet würdevoll die Arme. Dreht sich um die eigene Achse. Die Pirouetten werden schneller und schneller, als wolle sich die Figur neu erfahren in ganzer Schönheit und tänzerischer Eleganz. Auf der Suche nach seiner Identität stellt sich Jellinek immer wieder den existenziellen Grundfragen des Lebens. »Wer bin ich? Wozu bin ich hier? Was ist mein Weg und bin ich noch auf dem richtigen Weg?«

Lautes Stimmengewirr im Raum. Gebrüll. Getrampel. Geschrei. Ein unerbittlicher Rhythmus, der jegliche Ordnung zerstört. Großartig auch die musikalisch begleitende Dramaturgie des Stückes. Der Aufruhr der Massen wird immer lauter, aggressiver, bedrohlicher. Wie kann sich ein Mensch inmitten von Wut, von Hass und Feindschaft erwehren?

Jellinek kämpft entschlossen. Wirft das Gegröle hinter sich. Die Sachen aus dem Rucksack, alles Alte schmeißt er von sich weg, in alle Richtungen. Speit alles Gift aus sich heraus. Stülpt den Rucksack über seinen Kopf. Rauch steigt empor. Der Atem ist gehetzt. Schweiß rinnt aus allen Poren. »Das ist kein Rollenspiel. Das kommt tief von innen heraus. Brachial, ohne Form – aus einer Zeit, in der ich mich selbst ganz verloren hatte«, erinnert sich der derzeit 35-jährige Mann.

Er ist 19, als er sich am Theater in einen Kollegen verliebt. Er ist sein erster Freund. »Ich war irritiert, verunsichert, unentschieden. Ich habe gezittert und geweint, weil ich einen schweren Weg vor Augen hatte.« Ungarn ist beim Thema Homosexualität ein sehr konservatives Land. Seit Jahren sorgt Viktor Orbáns Regierung mit einer homo- und transgenderfeindlichen Politik für Aufsehen. »Ich wusste, alles in meinem bisherigen Leben würde ich verlieren. Mit meiner Tanzkarriere wäre es vorbei. Würde ich meine Mutter, die Geschwister und Freunde enttäuschen? Wie hätte ich noch meine Familie unterstützen können?«, fragt er sich. Schließlich ist die Liebe stärker als alle Bedenken. »Ich fühlte diese Kostbarkeit in meinem Herzen. Das gab mir Kraft und Mut, mich zu outen.«

Die Tanzproduktion »Who am I?« veranschaulicht, »wie Lust und Frust, Wut und Mut, wie der Körper, Gedanken und Gefühle, auf Zwänge, Vorurteile und Normen prallen«, so Stefan Hahn. Es betreffe nicht nur die sexuelle Präferenz, sondern allgemein das Ausgestoßenwerden.

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Knapp 400 Vorstellungen der Klassenzimmer-Stücke standen bereits auf dem Stundenplan. Auf Festivals, in Theatern und in öffentlichen Räumen fanden die Inszenierungen statt. »Die Resonanz unserer Klassenzimmer-Tanzstücke ist in den Schulen überaus positiv«, sagt Hahn. »Wir sind nah dran an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen. Wenn auch anfangs etwas distanziert, setzen sich die jungen Menschen dann doch ernsthaft mit den existenziellen Lebensthemen auseinander. Wie sollte ein Mann aussehen? Warum irritieren unterschiedliche sexuelle Orientierungen andere Menschen noch immer?« Jellinek fragt: »Was ist normal? Und wer ist normal? Wenn du nicht akzeptiert bist in der Gesellschaft, dann glaubst du, du wärst ungesund und nicht gewollt.«

Mittlerweile lebt Jellinek in Berlin, tanzt an der Deutschen Oper und in freien Companien. Bescheiden erklärt er: »Nicht vordergründig der Applaus bedeutet mir etwas, sondern der Inhalt des Stückes, die Botschaft. Die Akzeptanz, das ist mein Körper, das ist meine Wahrheit.«

Die letzte Szene: Am Ende findet sich überraschend eine Rose im Rucksack. Sanft streicht der Tänzer sie über sein Gesicht, legt sie achtsam auf Augen, Wangen, auf den Mund. Umstreicht mit ihr zärtlich Kopf und Hals, den ganzen Körper, bis er sie schließlich zu seinem Herzen führt. Ein Augenblick der Stille. »Ist es die kostbare Rose des kleinen Prinzen? Das Geheimnis? Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar? Jellinek wirft die roten Blütenblätter in den weiten Raum. «Es gibt keinen Unterschied zwischen uns. Wie kann es gelingen, friedvoll miteinander umzugehen? Wie kann ich Ja zu meinem Leben sagen, dabei Ja auch zu anderer Menschen Leben? Wir haben doch alle Sehnsucht nach Liebe und menschlicher Freiheit.»

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