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»White Lotus« und Co.: Teuer produzierte Moralkeule?
Warum spielen jetzt so viele Serien in den Villen und Urlaubs-Resorts der Superreichen?
Als Devon DeWitt (Meghann Fahy) in ihren abgerissenen Klamotten nach einer Nacht im Knast auf der Suche nach ihrer Schwester Simone (Milly Alcock) über das Anwesen der Milliardärsfamilie Kell läuft, könnte sie sich nicht deplatzierter fühlen. Vor der hochherrschaftlichen Villa liegt ein perfekter Rasen, teure Skulpturen stehen neben dem Pool, ein ganzes Heer an Angestellten ist unterwegs, um den Garten zu pflegen, Essen zuzubereiten und alle Besucher, die gerade zu einem Gala-Diner anreisen, sind piekfein herausgeputzt.
Die Netflix-Serie »Sirens« erzählt von Klassenschranken, Arbeitshierarchien, familiären Traumata und Care-Arbeit. Bisher hatte sich Drehbuchautorin Molly Smith Metzler vor allem einen Namen damit gemacht, die sozialen Abgründe der amerikanischen Unterschicht im Serienformat auszuleuchten. Mal ironisch in »Shameless« über eine Chicagoer White-Trash-Familie oder eher sozialrealistisch ernst in der gefeierten Serie »Maid« über eine obdachlose, alleinerziehende Mutter. In »Sirens« erzählt sie nicht weniger pointiert von Klassenunterschieden, nimmt aber die oberen Zehntausend ins Visier. Die beiden Schwestern Devon und Simone kommen aus dem proletarischen Buffalo und begegnen sich nach langer Zeit wieder auf dem Anwesen vor der Küste New Yorks, wo die Schönen und Reichen ihren Sommer verbringen.
Die edlen Kulissen großer Anwesen und luxuriöser Urlaubsresorts boomen derzeit im Serienformat. Am erfolgreichsten wird das in der zigfach ausgezeichneten Serie »White Lotus« umgesetzt, die von Sex und Crime in den Urlaubsorten der Oberschicht erzählt. Die im Frühling gestartete, auf der thailändischen Urlaubsinsel Koh Samui angesiedelte dritte Staffel hat sogar einen regelrechten Thailand-Reise-Boom ausgelöst, der auf Instagram zelebriert wird, wo sich Urlauber vor der Serienkulisse filmen und fotografieren.
Dabei sind die Geschichten über die reichen Touristen oder die Milliardäre, die wie in der Miniserie »Ein neuer Sommer« auf der Insel Nantucket leben oder wie in »Sirens« im Urlaubsparadies der Ostküsten-Aristokratie vor sich hindümpeln, alles andere als nachahmenswert. Oft drängt sich der Eindruck auf, mit dem unterhaltsamen Reichen-Bashing arbeite sich die Kulturindustrie an der von David Graeber breiten- und wutbürgerwirksam erfundenen Idee des einen Prozent ab, das gegen die 99 Prozent steht und dessen Vertreter hier mitunter etwas plump vorgeführt werden.
Auf dieser Welle surft auch die Kino-Komödie »Triangle of Sadness«, mit der Ruben Östlund 2022 die Goldene Palme in Cannes gewann. Der Film bietet wie die genannten Serien einen regelrechten Gruselfaktor für Zuschauer, die als unmittelbare Zaungäste dem bizarren Sozialverhalten der Reichen und Schönen beiwohnen dürfen. Was macht den Reiz aus, reichen Menschen dabei zuzusehen, wie sie es sich vermeintlich gut gehen lassen und dabei eine Tragödie nach der anderen erleben? Etwa wenn Östlund beim Gala-Diner alle kotzen lässt, die dysfunktionale Familie eines Finanzjongleurs in »White Lotus« auseinanderfliegt oder sich Milliardäre gegenüber ermittelnden Polizeibehörden wie Adelige aufführen, auf deren Land nur passieren darf, was sie erlauben, wie in »Ein neuer Sommer«?
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Diese fiktionalen Erkundungen der Oberschicht-Lebenswelten führen fast immer in tödliche und mörderische Abgründe. In »White Lotus« sind es zwar eher Idiotie und Impertinenz der Reichen, die dazu führen, dass Menschen ums Leben kommen. Aber in »Ein neuer Sommer« geht es um einen Mord, dem ausgerechnet eine Frau zum Opfer fällt, die aus der unteren Mittelschicht kommt und wirkt, als hätte sie sich verlaufen, und die überdies von Meghann Fahy verkörpert wird, derselben Schauspielerin, die in »Sirens« die Rolle der proletarischen Schwester spielt, die ungebeten ins Ressort der Reichen eindringt.
Auf der einen Seite ist es wohl eine schlichte menschliche Faszination für luxuriöse Anwesen, Villen und Urlaubsresorts, die den Reiz dieser filmischen Erzählungen ausmacht und die dem Zuschauer einen intimen Blick ins Innerste einer sonst abgeschlossenen Welt vorgaukelt, egal ob der realistisch ist oder nicht. Auf der anderen Seite erleben die Zuschauer eine bequeme Katharsis, wenn sie den Reichen, Mächtigen und Schönen als Vertretern des vermeintlichen kapitalistischen Herrschaftssubjekts zusehen, wie sie sich moralisch vergehen und trotz allen Klassendünkels soziale Verwahrlosung und grenzenlose Ignoranz zur Schau stellen. Ganz ähnlich funktionierte das auch schon in den 1980er Jahren, als im Zuge des neoliberalen Umschwungs mit »Dallas« und »Denver Clan« plötzlich die Geschichten der Superreichen per TV wöchentlich in die Wohnzimmer flimmerten und alle J.R Ewing und seinem Clan bei schmutzigen Geschäften zusehen konnten. Hat das heute vor dem Hintergrund der Tech-Milliardäre, die mit Donald Trump kuscheln, verschärfte politische Brisanz? Steckt in dieser angeblichen Nabelschau der Reichen und Herrschenden überhaupt substanzielle Kritik? Oder ist das nur eine gutbürgerlich-moralische Entrüstung?
Es gilt genau hinzusehen. Serien wie »White Lotus« und »Ein neuer Sommer« haben natürlich gesellschaftskritisches Potenzial, weil sie die Absurdität autoritärer und steiler sozialer Ordnungen karikieren anhand eines letztlich biederen, bürgerlichen Superreichen-Alltags. Ebenso Liev Schreiber (in »Ein neuer Sommer«) wie Kevin Bacon (in »White Lotus«) als Milliardäre sitzen den lieben langen Tag kiffend auf ihrem Anwesen herum und sagen Sätze wie: »Ich stifte im Monat mehr Geld als andere in ihrem ganzen Leben verdienen.«
Die neue Netflix-Serie »Sirens« sticht hier heraus. Denn sie erzählt auch viel von Arbeitshierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen, die mit diesen Klassengegensätzen einhergehen. In der Geschichte der beiden Schwestern Devon und Simone zeigt sie auch, wie viel Sehnsucht und Begehren in diesen Abhängigkeitsverhältnissen und sozialen Hierarchien steckt.
Die Ausbeutung Simones, die in einer emotionalen Krisensituation ihrer reichen Chefin wie ein Kuscheltier mit der Milliardärin die Nacht in ihrem Bett verbringt, wird von ihr selbst in keiner Weise kritisch hinterfragt. Dazu ist ihre Schwester Devon da, die aber letztlich daran scheitert, Simone aus diesem Verhältnis zu befreien. Was sie stattdessen zu bieten hat, ist aber auch nur das abgerockte Reihenhaus im proletarischen Buffalo, wo der demente Vater wohnt, um den es sich zu kümmern gilt. Genau dieser Misere ist Simone durch ihr neues Abhängigkeitsverhältnis entkommen. Doch auch Simones superreiche Chefin ist letztlich nur eine Art Angestellte ihres übertrieben selbstbewussten Mannes. Eine empowernde Auflösung dieser Abhängigkeiten, bieten diese Serien nicht wirklich.
Aber vielleicht steckt genau darin der eigentliche Reiz dieses Genres: Es zeigt und manifestiert das Dilemma unüberbrückbarer Klassenschranken, die sich als popkulturelle Gruselmode großer Beliebtheit erfreuen. Gleichzeitig kann man als Zuschauer ein bisschen träumen, man wäre selbst immens wohlhabend, und sich gut fühlen, weil die eigene Existenz wenigstens moralisch nicht ganz so armselig zu sein scheint wie die der Reichen.
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