Zwei Jahre nach Tag X in Leipzig: Unschuldig eingekesselt

Zwei Drittel der Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten eingestellt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Polizeikessel am Tag X im Leipziger Heinrich-Schütz-Park war einer der größten in der Geschichte der Bundesrepublik.
Der Polizeikessel am Tag X im Leipziger Heinrich-Schütz-Park war einer der größten in der Geschichte der Bundesrepublik.

Es war ein Polizeikessel, wie es ihn in der Bundesrepublik zuvor selten gegeben hatte. Exakt 1324 Menschen wurden am 3. Juni 2023 auf dem Heinrich-Schütz-Platz in Leipzig von der Polizei umschlossen und bis zu elf Stunden lang festgehalten. Sie hatten gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit protestiert, weil am sogenannten Tag X anlässlich des wenige Tage zuvor ergangenen Dresdner Urteils gegen die Antifaschistin Lina E. eine Demonstration wegen befürchteter Gewalt untersagt worden war. Einzelne Gewaltausbrüche lieferten der Polizei auch den Vorwand, den Protest auf dem Schütz-Platz einzukesseln und die Betroffenen stundenlangen Schikanen auszusetzen. Sie mussten ohne Trinkwasser und Essen ausharren und ihre Notdurft im Gebüsch verrichten.

Anschließend wurden sie mit Ermittlungsverfahren überzogen: wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung, Widerstand gegen oder tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Brandstiftung. Insgesamt 1537 Verfahren wurden eingeleitet. Zwei Jahre später haben sich die Vorwürfe zum Großteil als haltlos herausgestellt. 861 und damit knapp zwei Drittel der Verfahren seien eingestellt worden. Das teilte Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) auf Anfrage der Linksabgeordneten Jule Nagel mit. Meist hätten sich »Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld nicht feststellen« lassen, heißt es. In einigen Fällen habe das angezeigte Verhalten keinen Straftatbestand erfüllt. In mindestens zwei Fällen wurden die Verfahren eingestellt, weil der oder die Betroffene noch ein Kind war. Unter den Eingeschlossenen waren viele Minderjährige, denen jeder Kontakt zu ihren Eltern verwehrt wurde.

Weitere 445 Verfahren werden nach Auskunft des Ministeriums noch von der Polizei bearbeitet oder liegen der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung vor. Nagel erklärte, sie gehe »davon aus, dass es reihenweise zu Einstellungen kommen wird«. In einigen Fällen wurden mit Geldbußen verbundene Strafbefehle beantragt. Eine Anklage zum Straf-, Schöffen- oder Jugendgericht sei lediglich in 19 Fällen und damit in weniger als anderthalb Prozent erhoben worden, sagte Nagel. Damit falle die Bilanz der Staatsanwaltschaft und der bei der Polizei eigens eingerichteten Ermittlungsgruppe »juristisch gesehen äußerst dürftig« aus. Das bestätigt nach Ansicht der Leipziger Abgeordneten den Eindruck vieler Beobachter, dass die in der Stadt mit 3000 Beamten präsente Polizei an jenem Tag »recht wahllos und mit unverhältnismäßiger Härte gegen eine große Zahl unbeteiligter Personen vorgegangen ist«.

»Juristisch gesehen fällt die Bilanz von Staatsanwaltschaft und Ermittlungsgruppe der Polizei äußerst dürftig aus.«

Jule Nagel Linksabgeordnete

Zu den markantesten Beispielen dafür gehört der Fall »Benni«. Ein mit diesem Pseudonym benannter 25-jähriger Aktivist war wegen versuchten Mordes und 18-facher versuchter Körperverletzung angeklagt worden, weil er vermummt und dunkel gekleidet zwei Brandsätze auf Polizisten geworfen haben soll. Er hatte seit Januar 2024 ein halbes Jahr in Untersuchungshaft gesessen. Sechs Monate später wurde der Haftbefehl indes vom Landgericht aufgehoben, weil dieses einen dringenden Tatverdacht nicht als gegeben ansah. Im August 2024 lehnte das Gericht dann die meisten Anklagepunkte gänzlich ab, weil »Benni« nicht zweifelsfrei als die Person zu identifizieren sei, die Brandsätze geworfen habe. Eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde vom Oberlandesgericht abgelehnt. Übrig bleibt nun nur der Tatvorwurf des Landfriedensbruchs, über den am Amtsgericht verhandelt werden soll.

Mit Blick auf die zahlreichen eingestellten Verfahren erinnerte Nagel auch noch einmal daran, dass die meisten Eingekesselten als Folge dieser Maßnahme bei Verfassungsschutzbehörden als Linksextremisten geführt werden. Das Portal Frag den Staat hatte im Oktober öffentlich gemacht, dass die Daten aller 1322 strafmündigen Betroffenen von der sächsischen Polizei weitergegeben und im gemeinsamen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) der deutschen Geheimdienste gespeichert wurden. Dort sind ihre Daten nun für die nächsten fünf Jahre erfasst. Datenschützer und Juristen hatten die umfassende Speicherpraxis im Zusammenhang mit dem Leipziger Polizeikessel scharf kritisiert. Nagel erklärte jetzt mit Blick auf die magere Bilanz der Ermittlungen, es gebe für eine solche »Kriminalisierung« keinen Grund: »Ich erwarte daher die unverzügliche Löschung der Daten.«

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