Realutopie der globalen Bewegungsfreiheit

Fabian Georgi über die Möglichkeit einer Welt ohne Grenzen unter den Bedingungen des globalen Festungskapitalismus

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 6 Min.
Vor verschlossenen Türen: Den repressiven Grenzen zum Trotz ist globale Bewegungsfreiheit eine reale Option.
Vor verschlossenen Türen: Den repressiven Grenzen zum Trotz ist globale Bewegungsfreiheit eine reale Option.

Angesichts der gegenwärtigen Tendenzen verhärteter Staatlichkeit und »Migrationskontrolle« scheint Ihr Buch »Grenzen und Bewegungsfreiheit« wie aus der Zeit gefallen: Sie buchstabieren das Projekt einer globalen Bewegungsfreiheit aus. Wie kommen Sie zu dem Thema?

Die politischen Ideen offener Grenzen und globaler Bewegungsfreiheit entstanden in den 1980er Jahren, in den sozialen Bewegungen gegen zunehmend restriktive Migrations- und Grenzpolitiken in Europa, Nordamerika und anderswo. Als ich diese Forderungen Anfang der 2000er Jahre kennenlernte, im Kontext globalisierungskritischer Gipfelproteste und antirassistischer »Grenzcamps«, fand ich sie unmittelbar einsichtig. Dem Sterben und Leiden an den Grenzen des Globalen Nordens wurde eine ethisch klare Idee entgegengestellt: offene Grenzen und Freiheit der Bewegung für alle. Doch schon damals habe ich mich gefragt, wie so eine Welt funktionieren könnte. Wie sollte man auf den Einwand reagieren, ohne Grenzen würde »hier doch alles zusammenbrechen«? Mein Eindruck war, dass klare Antworten auf diese Fragen in der Bewegung und der kritischen Wissenschaft rar waren.
Ein zweiter Impuls, das Buch zu schreiben, entstand in den Jahren 2015 und 2016, rund um den »kurzen Sommer der Migration«. In dieser Phase erlebte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Idee offener Grenzen eine Hochkonjunktur. Ich glaube allerdings, dass in vielen Texten die politische Ökonomie von Migration und Grenzen, ihre Verflechtung mit kapitalistischen Widersprüchen und Krisen, nicht oder nur verkürzt behandelt wurde. Deshalb zielt das Buch darauf ab, kritisch-materialistische und politökonomische Perspektiven in der Debatte über offene Grenzen zu stärken.

Interview

Fabian Georgi ist Politikwissenschaftler an der Universität Kassel. Seine Dissertation »Managing Migration? Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM)« gewann 2018 den Antonio-Gramsci-Preis für kritische Forschung in der Migrationsgesellschaft. Im April dieses Jahres erschien sein Buch »Grenzen und Bewegungsfreiheit. Eine kritische Einführung«.

Welche Rolle spielen darin Staatsangehörigkeit und Nationalität?

Es sind Konzepte, auf die man sich natürlich »beziehen« muss. Der Punkt ist aber, dass Perspektiven, welche offene Grenzen und Bewegungsfreiheit primär innerhalb liberaler Verständnisse von Staat, Staatsangehörigkeit und Nationalität reflektieren, den kapitalistischen Rahmen als gegeben voraussetzen. Deshalb könnten sie nicht verstehen, was die grenzpolitische Repression heute antreibt und was die Bedingungen von Bewegungsfreiheit in emanzipatorischer Form wären.

Ist das auch das Problem linker und linksliberaler Positionen zu dem Thema? Was müssten abolitionistische Strategien berücksichtigen, um adäquate Perspektiven zu entwickeln?

Das Buch richtet sich einerseits gegen Positionen, die sich aus linker Sicht explizit gegen eine Perspektive der Bewegungsfreiheit stellen, wie es etwa die Strömung um Sahra Wagenknecht seit Jahren tut. Meist besteht der politische Referenzpunkt solcher Beiträge in einem nationalen Verständnis der Lohnabhängigen. Zugleich formuliert das Buch eine solidarische Kritik an »radikal linksliberalen« Befürworter*innen offener Grenzen. Die Herausforderung besteht nicht nur darin, andere Vorstellungen von Zugehörigkeit, »Citizenship« und Menschenrechten durchzusetzen oder Grenzen innerhalb eines zunehmend dystopischen Weltsystems zu »demokratisieren«. Weil die heutige, historisch gesehen krasse Form grenzpolitischer Repression zentral aus Dynamiken der gegenwärtigen kapitalistischen Formation resultiert, muss eine Politik der Bewegungsfreiheit auf das Engste mit Perspektiven einer anderen politischen Ökonomie verbunden sein.

Ist Marx für eine solche Analyse noch immer ein geeigneter Referenzpunkt?

Sicher ist er das. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, welche Einsichten und Beiträge an Marx anschließende Ansätze der kritischen politischen Ökonomie und der materialistischen Staatstheorie zu einem Verständnis heutiger Grenzregime und einer Politik der Bewegungsfreiheit beisteuern können. Aus dieser Sicht lässt sich etwa zeigen, warum die Dynamik grenzpolitischer Repression, die sich heute zu Vorformen eines globalen »Festungskapitalismus« entwickelt hat, gerade seit den 1980er Jahren entstanden ist. Warum hat diese Dynamik nicht bereits 30 Jahre früher begonnen oder erst 50 Jahre später? Der Grund ist, dass die Dialektik aus eigensinniger Migration, grenzpolitischer Repression und Politiken der Bewegungsfreiheit ihren Ursprung in einer Sequenz von Widersprüchen und Strategien hat, die in der neoliberalen Bearbeitung der Krise des Fordismus seit den 1970er Jahren ihren Ausgangspunkt nahm.
Zudem lässt sich zeigen, dass die heutige kapitalistische Formation auch deshalb fortdauert, weil ihre Widersprüche durch repressive Grenzregime reguliert werden. Ohne repressive Grenzregime würde die durch Kapitalfraktionen im Globalen Norden dominierte imperiale Lebens- und Reproduktionsweise an ihren eigenen Widersprüchen zerbrechen. Ohne die symbolischen, rassistischen und materiellen Hierarchien und Spaltungen, welche in Grenzregimen produziert werden, könnten diese Fraktionen ihre Hegemonie oder zumindest ihre prekäre Dominanz wohl nicht lange sichern.

Inwiefern handelt es sich dabei auch um eine kapitalismuskritische Perspektive?

Das Buch zeigt, warum sich eine emanzipatorische Form von Bewegungsfreiheit nicht innerhalb der gegenwärtigen autoritär-neoliberalen Formation, unter Bedingungen ihrer strukturellen Vielfachkrise, wird realisieren lassen. Die Forderung könnte sogar zu nicht intendierten Konsequenzen führen: mehr Zwang, für den Verkauf der eigenen Arbeitskraft mobil sein zu müssen; mehr Konkurrenz um eine neoliberal zerstörte soziale Infrastruktur; faschistische Backlashs; der forcierte Rückzug privilegierter Gruppen in »tausend kleine Festungen«. Gerade Befürworter*innen offener Grenzen sollten solche Dilemmata nicht leugnen. Stattdessen gilt es, eine Politik der Bewegungsfreiheit offensiv mit Perspektiven sozial-ökologischer Transformation zu verbinden.
Gleichzeitig wäre es zynisch, eine Politik der Bewegungsfreiheit hinauszuschieben, bis die Transformation abgeschlossen ist. Im Kern stellen uns sozial-ökologische Transformation und offene Grenzen vor dieselbe Frage: Wie lassen sich die Bedürfnisse vieler Menschen – solcher, die bereits an einem Ort leben, wie auch solcher, die neu dazu kommen – auf eine radikaldemokratische, solidarische und ökologisch tragfähige Weise erfüllen? Antworten auf diese Frage, das haben gerade Klimagerechtigkeitsbewegung und ökologisch-materialistische Forschung gezeigt, werden sich letztlich nur innerhalb postkapitalistischer politischer Ökonomien finden lassen.

Ist die Bewegungsfreiheit also eine Utopie?

Die Frage ist, ob es sich dabei um eine abstrakte oder konkrete Utopie handelt, eine Realutopie. Mit dem Begriff der konkreten Utopien umschrieb Ernst Bloch solche Alternativen, die den materiellen Tendenzen einer bestimmten historischen Situation entsprechen, mit ihnen in gewisser Weise korrespondieren. Ich versuche im Buch zu zeigen, dass die Bewegungsfreiheit durchaus als eine in diesem Sinne konkrete Utopie verstanden werden kann. Das Weltsystem ist heute globalisiert und verflochten wie nie zuvor, ökonomisch und ökologisch, politisch und sozial. Dass man auf diesen Grad globaler Integration und wechselseitiger Abhängigkeit mit einer Forderung auf gleicher Ebene reagiert, mit der Idee einer globalen Freiheit der Bewegung, ist nicht weltfremd, sondern entspricht der materiellen Situation. Zudem sind globale Mobilität und transnationale Lebensweisen bereits heute für Hunderte Millionen Menschen eine Realität. Aus dieser Perspektive der Migration würden offene Grenzen keine neue Situation schaffen, sondern bestehende Bewegungen und Lebensweisen sicherer, demokratischer und freier machen.

Wer sind die »Subjekte« der Bewegungsfreiheit?

Die Subjekte einer Politik der Bewegungsfreiheit sind zunächst die Bewegungen und die Kämpfe der Migration selbst, sowohl in ihrer Form als eigensinnige Praktiken des Migrierens, Grenzquerens und Ankommens, als auch der längerfristigen Kämpfe um das Bleiben und um gesellschaftliche Teilhabe. Das meint aber nicht nur die Aktivist*innen aus Antira- und No-Border-Bewegung im engeren Sinne, sondern auch viele Menschen, die sich in kleinen Initiativen oder als Einzelne innerhalb größerer Institutionen für Rechte auf Flucht, Bleiben und Teilhabe einsetzen. Meine Hoffnung ist, dass die Menschen, die sich oft sehr konkret und kleinteilig für people on the move, Geflüchtete, migrantisierte Arbeiter*innen und andere Gruppen einsetzen und gemeinsam mit ihnen kämpfen, aus dem Bewusstsein, im Sinne einer notwendig langfristigen Politik der Bewegungsfreiheit zu handeln, Kraft und Orientierung ziehen können.

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