Fliehen oder ausharren?

Stimmen aus dem Iran im Krieg: Zivilisten zwischen Todesangst und dem Traum von Freiheit

Rettungsteams im Einsatz in der iranischen Hauptstadt Teheran
Rettungsteams im Einsatz in der iranischen Hauptstadt Teheran

Angst regiert in den Straßen von Teheran, die 15-Millionen-Metropole liegt wie erstarrt da. In diesen Tagen ist die Stadt ungewöhnlich leer. Nichts ist mehr wie vorher. Man hört kein lautes Hupen, es gibt keine Staus mehr auf den Straßen, die Menschen sind nicht hektisch unterwegs. Geschäfte sind geschlossen, Cafés bleiben verwaist. Viele Einwohner*innen haben bereits die Stadt verlassen – aus Angst um ihr Leben. Ihre Häuser, ihre Arbeit, alles, was sie haben, haben sie zurückgelassen.

Viele sind aus Teheran in die beiden nördlichen Provinzen Gilan und Mazandaran gefahren. Normalerweise machen sie hier Urlaub. Die beiden Provinzen liegen am Kaspischen Meer und sind sehr grün, überall Zitronen- und Orangenbäume, Reisfelder. Doch jetzt ist die Situation völlig anders. Derzeit fahren die Menschen nach Norden, weil diese Gegend sicherer sein soll. In den vergangenen Tagen herrschte auf den Strecken, die von Teheran in diese beiden Provinzen führen, extrem starker Verkehr.

»Meine Bankkarten sind gesperrt, mein Bargeld ist verbraucht und ich kann nichts mehr kaufen. Es reicht nicht einmal mehr für Brot.«

Shila aus Karadsch

Doch nicht alle konnten oder wollten Teheran verlassen. Manche haben einfach kein Geld, kein Auto oder die Umstände machten es ihnen unmöglich. Unter denen, die die Stadt nicht verlassen konnten, ist Siavash, der sich entschlossen hat zu bleiben – trotz der Bombardierungen: »Israel hat gesagt, wir sollen Teheran verlassen, aber wie kann ich so einfach mein Zuhause und mein Leben verlassen und gehen? Viele meiner Freunde haben alles zurückgelassen und in Gilan und Mazandaran Zuflucht gesucht. Aber ich kann es nicht. Ich muss mich um meine älteren Eltern kümmern.« Seine Mutter hat Krebs und wird derzeit behandelt. »Ihre letzte Chemotherapie, die diese Woche geplant war, wurde abgesagt, weil alle die Stadt verlassen haben. Viele Ärzte und das medizinische Personal in den Krankenhäusern sind ebenfalls gegangen.« Es ist unklar, was mit Siavashs Mutter geschehen wird und wann sie ihre Chemotherapie fortsetzen kann. »Wir leben auf der westlichen Seite von Teheran und können jede Nacht wegen der Raketen nicht schlafen. Ich bin gegen den Krieg und habe Angst davor, was mit uns, vor allem mit meiner Mutter, passieren wird.«

Israels Verteidigungsminister Israel Katz warnte schon vor Tagen: »Teheran wird brennen«, und er hat Wort gehalten. Bilder und Videos, die im Internet kursieren, zeigen eine zum Teil zerstörte Stadt. Auch die Großstadt Karadsch, ungefähr 40 Kilometer westlich von Teheran, wurde in dieser Woche schon mehrmals von Israel attackiert. Shila wohnt in Karadsch. »Wir müssen für alles lange Warteschlangen ertragen, auch wenn wir notwendige Lebensmittel kaufen wollen. Supermärkte haben die Ausgabe der Mengen vieler Artikel limitiert. Einerseits versuchen viele Menschen Lebensmittel und Gesundheitsprodukte zu hamstern. Andererseits horten Geschäfte alles, was sie länger lagern können.«

Schon jetzt, eine Woche nach Kriegsbeginn, ist die Lebenssituation in eine schwierige Phase eingetreten. Es herrscht in einigen Städten Wasserknappheit, in manchen Städten mangelt es auch an Benzin und Brot. Viele berichten, dass die Banksysteme gestört sind, Geldautomaten funktionieren nicht, und manche Banken weigern sich, Bargeld auszuzahlen. »Meine Bankkarten sind gesperrt, mein Bargeld ist verbraucht und ich kann nichts mehr kaufen. Es reicht nicht einmal mehr für Brot. Ich weiß nicht, was ich tun soll«, erzählt Shila. Sie hatte schon am Mittwoch an zehn Geldautomaten versucht, Geld abzuheben, aber ohne Erfolg.

Zugleich wurde der Zugang zum Internet massiv eingeschränkt – ausgerechnet jetzt, wo Millionen Menschen dringend auf verlässliche Informationen angewiesen sind. »Das Internet ist momentan sehr eingeschränkt und fällt ständig aus, sodass wir keine Nachrichten über den Zustand unserer Familien austauschen können«, berichtet Shila. »Ich selbst bin gegen Krieg und mache mir große Sorgen um mich, meine Familie und alle anderen. Ich mache mir Sorgen um den Iran. Und ich mache mir Sorgen auch um die Menschen in Israel.«

Obwohl schon Dutzende Zivilisten in beiden Ländern gestorben sind, unterstützen einige im Iran Israels Angriff auf ihr Land. Manche iranische Soziologen sind überrascht. Wie ist das möglich, trotz jahrzehntelanger ideologischer Erziehung und antiisraelischer Propaganda? »Ich kann verstehen, wieso manche hierzulande sich über den Krieg freuen. Unter diesem massiven wirtschaftlichen Druck kann man an einen Punkt gelangen, an dem man den Krieg als Option betrachtet und die Zerstörung der iranischen Infrastruktur und des Lebens der eigenen Landsleute nicht einmal wahrnimmt«, räumt auch Shila ein. »Besonders in den letzten Jahren haben die Menschen viel durchgemacht. Aber ich möchte auch klarstellen: Dieses Recht haben Iraner, die im Ausland leben, nicht. Wer selbst in Frieden lebt, hat kein Recht, einen Krieg im Iran zu unterstützen.«

Eine von denen, die Israels Angriff auf den Iran gut finden, ist Sara aus Shiraz. »Ich fühle mich in diesem Land seit Jahren nicht sicher. Kein einziger Meter dieses Landes gehört mir. Dazu ist meine Kaufkraft nicht stark genug. Niemand freut sich wirklich über den Krieg, jeder sorgt sich um seine Heimat. Doch nun frage ich mich: Welche Heimat? Eine Heimat, in der mir nichts gehört? Eine Heimat, in der ich kein Gefühl von Frieden und Sicherheit habe? Eine Heimat, in der ich kein Recht habe, glücklich zu sein?«, sagt sie. »Die Wahrheit ist, viele Leute denken, ich sei eine Verräterin meiner Heimat, aber ich habe immer gebetet, dass endlich etwas passiert. Ich sage nicht, dass jemand unser Retter sein würde, aber ich will einfach Rache für all die getöteten Kinder, die hingerichteten Menschen. Und jetzt bin ich überglücklich, wenn ich höre, dass jeder Einzelne von den Kräften des Regimes getötet wurde.« Ob sie keine Angst hat, dass sich durch diesen Krieg die Lage im Iran noch verschlimmert? »Natürlich habe ich Angst! Aber ich hoffe, dass die nächsten Generationen bessere Zeiten erleben werden. Und dass sie erleben können, was wir nicht erlebt haben: Glück, Wohlstand und Freiheit. Ich hoffe, dass die Kinder der Zukunft in einem Iran leben werden, der ihnen gehört.«

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