»See der Schöpfung«: Mails aus der dunklen Höhle

In »See der Schöpfung« erzählt Rachel Kushner vom Leben als Undercover-Agentin

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.
Agentinnenschicksal: Auf der Suche nach Einblicken hat sich oft schon der Blick verzerrt.
Agentinnenschicksal: Auf der Suche nach Einblicken hat sich oft schon der Blick verzerrt.

In einem Interview hat Rachel Kushner einmal gesagt, dass sie sich besonders für Menschen interessiert, die auf des Messers Schneide leben. In »Flammenwerfer«, dem ersten Roman der US-amerikanischen Autorin, sind es Rennfahrer, die auf einem Salzsee in Utah mit ihren Raketenautos Geschwindigkeitsrekorde aufstellen und dabei riskieren, in ihren rasenden Zigarren zu verbrennen. »Ich bin ein Schicksal« handelt von Frauen, die aufgrund des unmenschlichen amerikanischen Gefängnissystems gezwungen werden, ihr Leben hinter Gittern zu verbringen. In »See der Schöpfung«, ihrem neuen Roman, ist die Heldin und Erzählerin eine ehemalige Geheimagentin, die für private Auftraggeber als V-Frau arbeitet, unter der ständigen Drohung aufzufliegen.

Dass es bei ihrem Job oft nicht beim Aushorchen bleibt, ist ihr als Undercover-Agentin des FBI zum Verhängnis geworden. Der Anwalt eines ihrer Bespitzelungsopfer konnte vor Gericht die Geschworenen davon überzeugen, dass sein Mandant zu der von ihm begangenen Straftat angestiftet worden ist. Als er freigesprochen wird, verliert sie ihren Job. Seitdem arbeitet sie für private Auftraggeber, froh, dass es hier »keine Supervisoren gab, keine Logbücher und keine Regeln.«

Sadie ist keine besonders sympathische Figur, skrupellos, zu fast allem bereit.

Für ihren neuen Auftrag soll sie sich in eine linke Kommune in Guyenne, einer abgelegenen Region im Südwesten Frankreichs, einschleichen und herausfinden, was die Kommunarden gegen den Bau von riesigen Wasserreservoirs geplant haben. Die Reservoirs sollen die monokulturelle Landwirtschaft vorantreiben und bedrohen die Existenz der kleinen Bauern. Als »Sadie« beginnt sie zunächst eine Liebesbeziehung zu dem Regisseur Lucien, einem Freund von Pascal Balmy, dem charismatischen Kopf der Kommune in Guyenne. Während Lucien noch an seinem neuen Film in Marseille arbeitet und später nachkommen will, fährt Sadie als seine amerikanische Freundin vorweg zu den Kommunarden.

Rachel Kushners Erzählerin ist keine besonders sympathische Figur, skrupellos, zu fast allem bereit. Die Perspektive ist eine andere als etwa in A.L. Kennedys Roman »Als lebten wir in einem barmherzigen Land«, in dem eine anarchistische Theatertruppe durch einen Agenten der britischen Polizei unterwandert wird: Kennedy erzählt aus der Sicht eines der Opfer. Aber beide Autorinnen sind von demselben realen Vorbild inspiriert, dem britischen V-Mann Mark Kennedy, der von 2002 bis 2009 im Auftrag von Scotland Yard in ganz Europa zu Frauen in der linken Szene Liebesbeziehungen aufbaute, um dann nicht nur Berichte zu schreiben, sondern auch zu Straftaten anzustacheln. Kushners Täterinnenperspektive hat den Vorteil, dass dem Leser die Einteilung in Gut oder Böse, richtig oder falsch schwerer fällt.

Neben der Agentenstory gibt es noch ein weiteres wichtiges Element in »See der Schöpfung«. Es sind die E-Mails von Bruno Lacombe, dem Spiritus Rector der Kommune, dessen Figur sich an den linken französischen Philosophen, Filmemacher und Aussteiger Guy Debord anlehnt. Debord hatte sich nach der Ermordung seines Freundes und Verlegers Gérard Lebovici in eine abgelegene Gegend in der Auvergne zurückgezogen. In »See der Schöpfung« zieht sich Lacombe nach dem Unfalltod seiner Tochter in die Dunkelheit einer Höhle zurück, deren Eingang er auf seinem Land in Guyenne entdeckt hatte. In E-Mails an Pascal Balmy gibt er der Kommune Ratschläge und schreibt über seine Auffassung von Geschichte, Politik und Philosophie. Sadie hackt den Account von Balmy und zitiert aus den E-Mails Lacombes.

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Es sind Mails, in denen Komik, Tragik, Wahnsinn und Wahrheit nah beieinander liegen. Am Anfang lacht man über die schrägen Thesen Lacombes, zum Beispiel über seine Spekulationen über die Neandertaler. Im Vergleich zum Homo Sapiens, schreibt er, der sich tragischerweise im Laufe der Menschheitsgeschichte durchgesetzt habe, seien sie mit ihrem größeren Gehirn der originellere, intelligentere Mensch gewesen. Allerdings neigten sie »zur Depression. Sie neigten auch zur Sucht und insbesondere zum Rauchen«.

Gleichzeitig blitzen immer wieder bedenkenswerte Gedanken in diesen E-Mails auf. Er habe geglaubt, schreibt Lacombe einmal, das Leben sei »früher besser« gewesen und er beginne jetzt zu ahnen, dass dies eine Art umgekehrter Teleologie sei, eine Mystifizierung der Vergangenheit einschließlich der Ansicht, Fortschritt sei schlecht, ja Fortschritt selbst sei überhaupt kein Fortschritt. Manchmal sieht er von seiner extremen Außenseiterposition in der Dunkelheit seiner Höhle Dinge, die im normalen Leben niemand erkennt. Genauso wie Sadie aus ihrer Position als Undercover-Agentin eher die Widersprüche in der Kommune auffallen. Aber man spürt schon zu Beginn des Romans, dass sie die Distanz zu den Ideen Lacombes und zu den Kommunarden – anders als sie sich einzureden versucht – nicht völlig aufrechterhalten kann.

Rachel Kushner, See der Schöpfung, Rowohlt 2025, 480 Seiten, 26€

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