Grenzen der Intensivmedizin

Trotz Technik und Kommunikation: Im Kampf um das Leben von Patienten gibt es Grenzen

Technikeinsatz auf einer deutschen Intensivstation
Technikeinsatz auf einer deutschen Intensivstation

Die Medizin wird zunehmend mit ethischen Fragen konfrontiert: Ist das Mögliche das Nötige? Welche Entscheidungen können Patienten für sich treffen? Sehr häufig tauchen solche Dilemmata speziell in der Intensivmedizin auf.

Im Herbst 2024 gab es zur künstlichen Beatmung neue Studienergebnisse, die eine Revision der üblichen Praxis verlangen. Die Untersuchung des Intensivmediziners Christian Karagiannidis zeigte eine hohe Sterblichkeitsrate von beatmeten Patienten. Der Leiter einer Kölner Lungenklinik wertete die Routinedaten von mehr als einer Million Patienten ab 18 Jahren aus, die zwischen 2019 und 2022 in 1395 deutschen Krankenhäusern beatmet worden waren. Von diesen starben 43,3 Prozent in den Kliniken. International waren es zwischen 28 und 31 Prozent. Auffällig sei, dass vor allem hochaltrige Patienten sehr häufig auf Intensivstationen beatmet würden und dennoch stürben, so der Arzt. Nicht nur Karagiannidis fragt, ob die Medizin in Deutschland hier richtig handele. Auch der wissenschaftliche Arbeitskreis der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) sieht angesichts der Studie Bedarf, über »Sinnhaftigkeit und Grenzen« einer grundsätzlich bewährten und hochwirksamen Therapie nachzudenken.

Anlässlich des Tages der Intensivmedizin äußerten sich verschiedene Akteure zu dem Thema. Bei einer Online-Podiumsdiskussion tauschten sich Pflegekräfte und Ärzte aus Intensivmedizin und angrenzenden Fächern aus, auch Patienten wurden befragt. Beispielhaft die Krankengeschichte von Christian Kahrmann. Der Schauspieler kam im März 2021 mit Corona ins Krankenhaus und musste kurzfristig in ein künstliches Koma versetzt werden. »Ich hatte Angst, aber ich wusste, dass ich in guten Händen war.« Im Koma erlitt er ein akutes Nierenversagen, Blutwäsche per Dialyse wurde verordnet. Nach fast drei Wochen »kam ich wieder zu mir. Aber es dauerte noch einmal Wochen, bis ich wieder ansprechbar war«, schilderte Kahrmann. Er konnte nach einem Luftröhrenschnitt zunächst nicht sprechen, hatte Halluzinationen. »So müssen sich Babys vorkommen. Alles ist hell, du kannst dich nicht bewegen. Du weißt nur, du lebst jetzt, bist wieder da.«

Während sich Mediziner und Pfleger im Arbeitsalltag auf den Intensivstationen (ITS) auf die Technik, darunter Beatmungsgeräte oder Spritzenpumpen für die Medikamente, konzentrieren, befinden sich Patienten »in einer außergewöhnlichen Situation«, wie es DGAI-Präsident Gernot Marx umschreibt. Es gehe hier nicht einfach um »Tod und Technik«, die ITS seien gleichzeitig ein Ort des Kümmerns. »Es gibt auch Rückschläge, die Teams kämpfen weiter. In der Pandemie wurden Patienten teils Monate beatmet.« Das Credo der Beschäftigten sei aber, Patienten nicht nur »zurück ins Leben zu bringen« (wie es auch in einer DGAI-Kampagne heißt), sondern dies auch in einer guten Verfassung.

Gut betreut werden müssen neben Patienten ebenso die Angehörigen. Hier hat sich der Fokus verschoben. Heute sollen die An- und Zugehörigen zu jeder Zeit Zugang zu ihren Liebsten bekommen. Und eben auch klare Aussagen und ausreichende Erklärungen zu dem, was in der ITS unternommen wird und wie der jeweilige Zustand – bis hin zu Alarmsignalen der Technik – zu deuten ist. Kahrmann war aufgefallen, dass sich das ITS-Team mit viel Humor darum bemühte, ihn »zurückzuholen«. Gegenüber Angehörigen sei nichts beschönigt worden, erfuhr er später.

Mit Grenzen der Intensivmedizin sind auch die Belastungsgrenzen für die Beschäftigten gemeint. Darüber berichtete der ITS-Pfleger und Instagram-Influencer Dominik Stark, der im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld arbeitet. »Wir müssen die Geräte bedienen, auf Störungen reagieren und die Medikamente kennen. Wir sind immer im Austausch mit den Patienten. Auch wenn sie im Koma sind, wird mit ihnen gesprochen.« Eigene Beobachtungen und die von Angehörigen würden den Ärzten mitgeteilt. Der Druck sei hoch, aber auszuhalten: »Es gibt Phasen der Entspannung. Trotzdem müssen auch im Zehn-Stunden-Nachtdienst die Medikamente exakt aufgezogen werden.« Jeder kleine Fehler könne gravierende Folgen haben.

»Es gibt Phasen der Entspannung. Aber auch im Zehn-Stunden-Nachtdienst müssen Medikamente exakt aufgezogen werden.«

Dominik Stark Intensivpfleger

Was aber, wenn die Belastung sehr hoch ist, wie an vielen Tagen in der Pandemie? »Nur durch Professionalität und Zusammenarbeit schaffen wir es auf der ITS, die Patienten nicht aus dem Blick zu verlieren«, erklärte Hendrik Bracht, stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Notfallmedizin, Transfusionsmedizin und Schmerztherapie am Krankenhaus Bethel. »Wenn sich ganz viele Leute um einen Patienten kümmern, ist Kommunikation besonders wichtig.«

Hierbei geht es um die akuten Therapieentscheidungen, aber auch darum, was davon im Sinne des Patienten ist. Einerseits wäre es aus Sicht vieler Intensivmediziner und Pflegekräfte gut, wenn sich Menschen rechtzeitig mit den Grenzen und Möglichkeiten der Hochleistungsmedizin auseinandersetzen. Die Debatte um Tod und Sterben gehöre in die Gesellschaft, meint auch Pfleger Stark. Eine Patientenverfügung wäre ein wichtiger Schritt, dann könnten in den Krankenhäusern Entscheidungen leichter getroffen werden.

Andererseits könnte die Wissenschaft dazu beitragen, sich Prozesse genauer anzuschauen: »Was passiert nach der ITS? Welche Nebenfolgen bleiben, und was bleibt übrig vom Verlauf der Krankheit und den Therapiezumutungen? Das muss in die Fortbildungen hinein«, erläuterte Rudolf Henke, langjähriger Präsident der Ärztekammer Nordrhein. »Und die Therapie endet auch nicht mit dem Übergang in eine nächste Einrichtung.«

Unter dem Stichwort Grenzen kommen Ethikfragen in den Blick. Wenn Menschen ihren Beruf in der Medizin aufgeben, hat das mitunter auch damit zu tun, dass »zu viel« gemacht wird. Um das zu vermeiden, ist die Patientensicht zu stärken. Um den Willen der Patienten kennenzulernen, braucht es nicht nur eine Verfügung auf Papier, sondern Zeit für Aufklärung und für die Wahl zwischen verschiedenen Therapieoptionen. Bei hohem Arbeitsdruck fehlt diese Zeit.

Insofern endete auch die Podiumsdiskussion mit Forderungen nach Reformen in der stationären Versorgung. Das bislang nur versprochene Gesetz zur Entbürokratisierung könnte die Personalnot deutlich vermindern, so Dominik Stark. Dann wäre auch Zeit für ein ITS-Tagebuch. Dort hinein gehörten »Dinge, die uns schleierhaft bleiben«. Der Krankheitsverlauf wäre mit solchen Notizen einfacher zu rekonstruieren. Und Traumatisierungen könnten bearbeitet werden, wenn die Psyche von Patienten nach der ITS-Zeit nicht zur Ruhe kommt.

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