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Fretterode-Verfahren schleppt sich weiter hin
Sieben Jahre nach dem brutalen Neonazi-Angriff auf Journalisten gibt es immer noch kein rechtskräftiges Urteil
Im sogenannten Fretterode-Verfahren gegen zwei Neonazis beanstanden Vertreter der Nebenklage erneut eine Hinhaltetaktik des Landgerichts Mühlhausen in Thüringen. Ein Anwalt der Geschädigten hat deshalb eine weitere Verzögerungsrüge gegenüber dem Gericht erhoben – damit wird die Grundlage für eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer geschaffen.
Der eigentliche Vorfall liegt inzwischen schon über sieben Jahre zurück: Im April 2018 recherchieren zwei Journalisten aus Göttingen im thüringischen Fretterode. In dem Dorf nahe der Landesgrenze zu Niedersachsen residiert der Rechtsextremist und damalige NPD-Funktionär Thorsten Heise – derzeit Mitglied im Bundesvorstand von Die Heimat –, seine Familie betreibt dort einen Versand für Nazi-Devotionalien. Die beiden angeklagten Neonazis entdecken die Journalisten und verfolgen sie in einem schwarzen BMW. Einer von ihnen ist ein Sohn Heises, der andere gilt als sein Ziehsohn.
Es kommt zu einer Verfolgungsjagd durch mehrere Orte. Das Fahrzeug der Reporter landet in einem Graben. Die Neonazis greifen zunächst das Auto und anschließend die Insassen an, mit einem Baseballschläger, einem Messer, einem großen Schraubenschlüssel und Pfefferspray.
Der Fotograf erleidet eine Stichverletzung im Oberschenkel, sein Begleiter eine Schädelfraktur und eine Platzwunde am Kopf. Die Scheiben des Fahrzeugs sind zerstört, Reifen zerstochen, die Kamera des Fotografen geraubt. Die SD-Karte mit Aufnahmen der Täter können die Journalisten sichern.
Vier Jahre und eine erste Verzögerungsrüge später: Das Landgericht Mühlhausen verurteilt die beiden Neonazis lediglich zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung beziehungsweise zu 200 Arbeitsstunden nach Jugendstrafrecht. Das Gericht sieht weder einen gezielten Angriff auf Journalisten noch einen schweren Raub oder ein politisches Tatmotiv als erwiesen an.
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Staatsanwaltschaft und Nebenklage kritisieren diese Einschätzung scharf. Die Nebenklage hatte eine Verurteilung insbesondere auch wegen schweren Raubes mit deutlich höheren Strafen und insbesondere die Berücksichtigung der neonazistischen Beweggründe bei der Strafzumessung gefordert.
Im März 2024 kassiert der BGH das Urteil und erklärt die Beweiswürdigung des Landgerichts Mühlhausen für fehlerhaft. Doch bislang ist noch kein neuer Prozess in Sicht. »Die Justiz in Mühlhausen versagt in dem Verfahren«, sagt der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam, der einen der beiden Journalisten vertritt. Nach einer derartigen Schelte durch den BGH das Heft nicht unmittelbar in die Hand zu nehmen und die offensichtlichen Fehler aus dem ersten Verfahren schnell auszuräumen, sei »peinlich und offenbart, dass unsere Mandanten von der Justiz in Mühlhausen weder Genugtuung noch Schutz zu erwarten haben. Geschützt werden dort Neonazis.«
Ob angesichts dieses Verhaltens des Landgerichts die beiden geschädigten Journalisten als Nebenkläger überhaupt an einer Neuauflage des Prozesses teilnehmen werden, lassen Adam und sein Kollege Rasmus Kahlen offen. »Unsere Mandanten haben aus der starken solidarischen Begleitung des Prozesses und der großen öffentlichen Aufmerksamkeit viel Kraft gezogen«, erklären die Anwälte am Mittwoch. Sie seien aber auch überzeugt, »dass nach sieben Jahren Verschleppung des Verfahrens ein gerechtes Urteil einer Jugendstrafkammer in Mühlhausen nicht mehr zu erwarten ist.«
Das Landgericht selbst weist den Vorwurf der Verschleppung zurück. Ein Sprecher nannte als Grund für die Verzögerung eine Vielzahl eilbedürftigerer Verfahren, insbesondere Haftsachen sowie zahlreiche ältere, bereits früher anhängig gewordene Fälle. Bei Haftsachen gelte das Beschleunigungsgebot in besonderem Maße. Die Verzögerung im ersten Verfahren hatte das Gericht unter anderem mit der Corona-Pandemie und personellen Engpässen bei der Justiz begründet.
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