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Die letzten Schtetl
Viele Jüdinnen und Juden begaben sich nach 1945 zunächst in die US-amerikanische Besatzungszone – eine Art »Wartesaal« für eine sichere Zukunft
Nachdem der Nationalsozialismus endlich besiegt und damit der Shoah ein Ende gesetzt worden war, begaben sich viele Überlebende von Deutschland aus auf den Weg in ein neues Leben. Allein in der US-Besatzungszone lebten zwischen 1945 und 1949 Hunderttausende jüdische Menschen in Lagern und beschlagnahmten Häusern. Sie organisierten sich in Komitees, schufen Kindergärten, Schulen, Waisenhäuser, Bibliotheken, Krankenhäuser, Theatergruppen, Sportvereine und etwa 150 Zeitungen. Eine Minderheit war religiös und richtete Synagogen, Thora-Schulen, rituelle Badehäuser und koschere Küchen ein. Ihre Umgangssprache war Jiddisch. Das Lager Föhrenwald bei Wolfratshausen, das am längsten bestand, galt als »das letzte Schtetl«, Ausdruck der jüdischen Kultur in Osteuropa, die die Deutschen vernichtet hatten.
Diese Überlebenden bezeichneten sich als Scheerit Haplejta, was so viel bedeutet wie der Rest der Geretteten, die der Vernichtung entronnen waren und die Zukunft gestalten konnten. Für sie war es eine Zeit im »Wartesaal«, wie es Zalman Grinberg ausdrückte, der Vorsitzende des Zentralkomitees der befreiten Juden in der US-Zone. Sie hätten alle »nur ein Ziel, raus aus Europa«, sagte ein Bewohner des Lagers Feldafing 1946.
Katastrophale Zustände
Bei Kriegsende befanden sich in Westdeutschland mehrere Millionen sogenannter Displaced Persons (DPs), KZ-Insassen, Zwangsarbeiter*innen und Kriegsgefangene, aber auch ausländische Faschisten. Bis auf letztere kehrten die meisten in den folgenden Monaten in ihre Herkunftsländer zurück. Für die Versorgung war die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) zuständig. Die Mehrheit fand sich in Kasernen, Flugplätzen, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlagern wieder. Die Aufteilung erfolgte nach Staatsangehörigkeit, weshalb jüdische Überlebende mit ukrainischen, lettischen oder litauischen Nazi-Kollaborateuren zusammenleben mussten. Sie forderten deshalb, als eigene Nation behandelt und separat untergebracht zu werden, was die Besatzungsbehörden allerdings ablehnten.
Bereits wenige Wochen nach der Befreiung der Jüdinnen und Juden berichtete die amerikanische Presse über katastrophale Zustände in den DP-Lagern: unbeschreiblicher Dreck, drangvolle Enge, Hunger, dazu Soldaten und Offiziere, die traumatisierte Menschen schlecht behandelten, bis hin zu antisemitischen Vorfällen. US-Präsident Harry Truman schickte daraufhin Earl G. Harrison, einen ehemaligen Kommissar für Einwanderung, in die amerikanische Besatzungszone.
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Der Jurist besuchte etwa 30 Camps und veröffentlichte im August 1945 einen Bericht, in dem er betonte, dass die Juden aufgrund ihrer Verfolgung eine »besondere Gruppe mit größeren Bedürfnissen« seien. Harrison verurteilte die Militärverwaltung mit drastischen Worten: »Wir scheinen die Juden wie die Nazis zu behandeln, mit der Ausnahme, dass wir sie nicht vernichten.« Sein Report führte zu einer Wende in der US-Politik. Jüdische DPs wurden in eigenen Lagern untergebracht, General Dwight D. Eisenhower ließ ihre Tagesrationen auf 2500 Kalorien verdoppeln. Hilfsorganisationen wie das Jewish Joint Distribution Comitee (Joint) aus den USA schickten Lebensmittel und Helfer*innen.
Eine eigene Lagerpolizei schützte vor Übergriffen der Deutschen, die sich als die wahren Opfer des Kriegs bemitleideten, jede Verantwortung für die NS-Verbrechen ablehnten und Jüdinnen und Juden als Parasiten und Schwarzmarkthändler schmähten. In Landsberg kam das Gerücht auf, ein Jude habe vergiftete Bonbons an Kinder verteilt. Vor dem Memminger Amtsgericht wurde 1947/48 die Klage einer Frau verhandelt, die behauptete, Juden hätten ihrem vierjährigen Kind vor Ostern Blut abgezapft.
Flucht aus Osteuropa
Unterdessen flüchteten immer mehr jüdische Menschen aus Osteuropa. Bereits nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 hatten litauische Nationalisten ihre jüdischen Nachbar*innen massakriert, viele Polen hatten die deutschen Verbrechen gebilligt oder selbst Hand angelegt. Als Überlebende im Sommer 1945 zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass der Judenhass geblieben war. In Polen wurden zwischen 1945 und 1947 etwa 1500 Jüdinnen und Juden ermordet. Das Pogrom von Kielce im Juli 1946 führte zum Exodus sowohl von Überlebenden, die aus deutschen Konzentrationslagern kamen, als auch von Menschen, die vor der Wehrmacht in die Sowjetunion geflüchtet waren und in Verstecken oder als Partisanen überlebt hatten wie die Bielski-Brüder.
So lebten 1947 etwa 250 000 bis 300 000 Juden in Westdeutschland, 90 Prozent davon in der amerikanischen Zone. Von 28 großen Lagern mit mehr als 500 Bewohnern befanden sich 13 in Bayern, sieben in Hessen, darunter Zeilsheim bei Frankfurt mit etwa 4000 Menschen, und fünf im amerikanisch verwalteten Teil Württembergs. Das Dueppel-Center im US-Sektor von Berlin fungierte als Durchgangsstation für jüdische Menschen aus dem Osten. In der britischen Zone existierte das DP-Lager Belsen beim ehemaligen KZ Bergen-Belsen als einzige größere Einrichtung mit zeitweise 11 000 Menschen, in der französischen Zone das Lager Biberach mit 1000 Insassen. In der sowjetischen Zone gab es keine solchen Lager, weil sich kaum jemand dorthin begeben wollte.
Die ersten und größten Lager entstanden bei Kriegsende in Südbayern, weil dort einige tausend Jüdinnen und Juden die Konzentrationslager und Todesmärsche überlebt hatten, darunter Feldafing, Föhrenwald, Landsberg und München-Freimann sowie die Krankenhäuser von Bad Wörishofen, Gauting und Sankt Ottilien. Ein Viertel der Jüdinnen und Juden lebte in Städten und Dörfern in Häusern und Wohnungen, organisiert in Gemeinschaften, wie in Augsburg oder Dachau.
Die religiösen Überlebenden bezeichneten sich als Scheerit Haplejta, was so viel bedeutet wie »der Rest der Geretteten«.
Das Kloster Sankt Ottilien südwestlich von München war seit Ende April 1945 ein regelrechtes jüdisches Refugium. Grinberg, ein Arzt aus Litauen, der das Ghetto in Kaunas überlebt hatte, führte KZ-Insassen dorthin, die auf dem Todesmarsch aus den KZ-Außenlagern bei Kaufering flüchten konnten, etliche davon schwer verletzt. Acht von 45 Überlebenden des Ghetto-Orchesters von Kaunas gaben dort am 27. Mai 1945 das »Liberation Concert«. Daraus entstand ein Ensemble, das durch die Lager tourte. Künstlerischer Höhepunkt waren zwei Auftritte in den Lagern Feldafing und Landsberg, die Leonard Bernstein dirigierte.
Ein weiteres Lager richtete die US-Armee am 1. Mai 1945 in Feldafing am Starnberger See in Gebäuden der Hitlerjugend und Privathäusern ein. Dort gründeten Delegierte am 1. Juli 1945 das Zentralkomitee der befreiten Juden. Grinberg wurde zum Vorsitzenden gewählt und erklärte: »Im Schein des Feuers der Krematorien und Gaskammern und angesichts des vergossenen jüdischen Blutes rufen wir, die gewesenen Häftlinge in Bayern, das ganze jüdische Volk zur Einigung … damit es mit vereinten Kräften einen jüdischen Staat aufbaue.«
Veränderte Haltung zu Israel
Vor der Shoah hatte eine Mehrheit der Jüdinnen und Juden in West- und Osteuropa den Zionismus abgelehnt. Danach hingegen sahen die meisten Geretteten keine andere Perspektive mehr als einen eigenen Staat als Schutzmacht. Zur Popularität des Zionismus trugen Soldaten der Jüdischen Brigade bei, die in die Lager kamen und halfen. Diese Einheit der britischen Armee bestand aus Freiwilligen aus Palästina. Nach Kriegsende jagten und exekutierten sie etwa 1500 Faschisten und schmuggelten Zehntausende von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa in die US-Zone und weiter nach Italien.
Die Hagana, Vorläuferin der israelischen Armee, bildete in den Lagern Königsdorf und Wildbad künftige Offiziere aus und rekrutierte Männer und Frauen. Andere organisierten sich als Kibbuzim auf etwa 40 Bauernhöfen, die Nazis gehört hatten, um sich auf ein Leben als Bauern vorzubereiten. Der berühmteste Fall war der Pleikershof von Julius Streicher, dem Herausgeber des Hetzblattes »Stürmer«, im Landkreis Fürth.
Bei aller Begeisterung wollten keineswegs alle jüdischen Menschen nach Palästina auswandern. Etwa zeitgleich zur Gründung des Staates Israel im Mai 1948 erleichterten die USA die Einwanderung. Die Zahl der jüdischen DPs sank von 165 000 im April auf etwa 30 000 im September. Ein Fünftel bis ein Drittel emigrierte in die USA, andere gingen nach Australien, Kanada und Lateinamerika. Etwa 2500 bis 3000 Jüdinnen und Juden kehrten allerdings wenig später aus Israel nach Westdeutschland zurück, weil sie mit der Gesellschaft oder dem Klima ihres Einwanderungsstaates nicht zurechtkamen oder Angst vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen hatten.
1951 übernahmen schließlich bundesdeutsche Behörden die Verwaltung der DP-Camps, die nacheinander geschlossen wurden. Lediglich Föhrenwald bestand bis 1957 als Lager für Menschen, die zu schwach, zu krank oder zu arm waren, um auszuwandern – oder aus verschiedensten Gründen nicht fortgehen wollten, etwa weil sie hofften, Entschädigungsverfahren besser betreiben zu können, oder weil sie neue Partner*innen gefunden hatten. Diese Gebliebenen wurden von denen, die gingen, häufig angefeindet, weil sie im Land der Täter blieben. Die meisten von ihnen integrierten sich in die neu entstandenen jüdischen Gemeinden, in denen sie mehr als die Hälfte der Mitglieder stellten.
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