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Senat plant Pilotprojekt zur Arbeitszeiterfassung an Schulen
Gewerkschaft und Schulleitungsverbände zeigen sich unterschiedlich optimistisch
Pro Jahr leistet eine Lehrkraft in Berlin im Schnitt 100 Stunden Mehrarbeit. Das sind Überstunden, die sich das Jahr über anhäufen und nicht abgebaut werden können. Das ergab eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin. Zu der Frage, wie Berlin die Überlastung von Lehrkräften in den Griff bekommen könnte, kann sich der Senat nun doch eine Pilotphase zur Erfassung der Arbeitszeit an Schulen vorstellen. Das Pilotprojekt hatte die GEW im Rahmen ihrer Studie empfohlen.
Bisher hatte die Senatsbildungsverwaltung auf ein einheitliches Vorgehen der Bundesländer gepocht. Die Arbeitszeit und damit auch etwaige Überstunden von Lehrkräften werden derzeit an deutschen Schulen nicht erfasst. Das widerspricht einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von 2022, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, ein System einzuführen, das die von den Arbeitnehmer*innen geleistete Arbeitszeit misst. Denn, so entschied das Bundesarbeitsgericht auf Grundlage eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs: Die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen in Deutschland ist aufzuzeichnen.
Die Berliner Bildungsverwaltung teilte auf Anfrage des Abgeordneten Louis Krüger (Grüne) mit, dass sie »zur Durchführung eines entsprechenden Pilotprojektes zur Gewinnung praxisnaher Erkenntnisse bereit« sei. Die Entwicklung eines tragfähigen, rechtssicheren und praktikablen Systems zur Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften sei »eine komplexe Aufgabe«, die eigentlich nicht auf Landesebene isoliert gelöst werden sollte. Allerdings haben sich im Rahmen der Kultusministerkonferenz »weiterhin keine nennenswerten Fortschritte« ergeben. Eine vom ehemaligen Bundesarbeitsminister angekündigte Reform des Arbeitszeitgesetzes, welche dem richtungsweisenden Urteil des BAG Rechnung getragen hätte, sei nie über den Status eines Entwurfs hinausgekommen. Daher sei der Senat nun zu eigenen Schritten bereit.
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Zur weiteren Konkretisierung will der Senat mit den Gewerkschaften und den Schulleitungsverbänden sprechen. Wie die GEW, der Interessenverband Berliner Schulleitungen (IBS) und die Vereinigung der Berliner integrativen Sekundarschulen, Schulleiterinnen und Schulleiter (BISSS) mitteilen, steht eine Kontaktaufnahme seitens des Senats allerdings noch aus.
Beate Maedebach steht dem Pilotprojekt noch unentschlossen gegenüber. Die IBS-Vorsitzende leitet die Kopernikus-Schule in Steglitz und sagt: »Wir sind für datenbasierte Schularbeit. Allerdings habe ich das Gefühl, dass zuweilen Daten um der Datenerhebung willen erhoben werden. Diese Gefahr sehe ich bei einer befristeten Pilotphase.«
Allerdings stünde sie einer Arbeitszeiterfassung positiv gegenüber, wenn damit die Überlastung der Lehrkräfte abgebaut würde, sagt Maedebach. Aus den »aussagekräftigen Ergebnissen der GEW-Studie« müssten Schlüsse gezogen werden. »Ich weiß aber, wenn ich meinen Mitarbeiter*innen erklären muss, dass das Land Berlin sie dazu verpflichtet, einfach nur die Arbeitszeiten aufzuschreiben, werde ich auf Unverständnis stoßen. Das wäre nämlich reine Mehrarbeit.« Am liebsten wäre Maedebach, auf Bundesebene würden Nägel mit Köpfen gemacht.
Maedebachs Kollege Sven Zimmerschied von der BISSS erachtet eine offizielle Pilotphase für positiv. Der Schulleiter der Friedensburg-Schule in Charlottenburg-Wilmersdorf sagt allerdings auch: »Der Knackpunkt ist aber, welche Konsequenzen eine auch dort festgestellte Überlastung hätte.« Deshalb sollte bereits für die Pilotphase mitgedacht werden, wie die Lehrkräfte von ausufernder Mehrarbeit befreit werden können, etwa indem einzelne Entlastungsmechanismen gleich mit erprobt werden, sagt Zimmerschied.
Der Grünen-Abgeordnete Louis Krüger den Richtungswechsel des Senats für richtig. »Dennoch kann ich auch die Angst der Lehrkräfte verstehen, dass eine selbstständige Arbeitszeiterfassung Mehrarbeit bedeutet, die Belastung noch erhöht und dass echte Veränderungen verschleppt werden«, sagt Krüger. In der Pilotphase müsste deshalb erprobt werden, wie »eine Arbeitszeiterfassung möglichst ohne Aufwand gestaltet und mit Entlastungsmechanismen gekoppelt werden kann«.
Krügers Einschätzung zufolge hätte das Land Berlin durchaus die rechtliche Kompetenz, auf Landesebene eine Arbeitszeiterfassung für seine Schulen einzuführen. Allerdings teilt er die Skepsis der Bildungsverwaltung: »Es stellt sich schon die Frage nach der Praktikabilität, wenn jedes Land ein eigenes System erarbeitet und einführt.«
Die GEW begrüßt die Wende des Senats ebenfalls. Der GEW-Landesvorsitzende Gökhan Akgün plädiert allerdings dafür, die Themen Arbeitszeiterfassung und Entlastung zu trennen. »Die Arbeitszeiterfassung ist gesetzlich vorgeschrieben. Die bisherige Praxis ist nicht rechtskonform und muss sowieso beendet werden. Hier muss das Land Berlin als Arbeitgeber seiner Verpflichtung nachkommen«, sagt Akgün. Hierfür sei ein Pilotprojekt sinnvoll, an dem die Personalräte teilnehmen.
Parallel dazu müsse in einem getrennten Schritt überlegt werden, wie die Mehrarbeit reduziert werden kann. »Wir wissen, dass die Arbeit in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen ist«, sagt Akgün. Das belege die Studie, aber auch die hohe Teilzeitquote und das belegen die vielen Überlastungsanzeigen. Akgün sagt weiter: »Für die Entlastung setzen wir als Gewerkschaft in erster Linie auf tarifliche Vereinbarungen.« Mit dem Tarifvertrag Gesundheitsschutz streitet die Berliner GEW Berlin seit Jahren dafür, die Klassengrößen in den Schulen zu reduzieren.
Schulleiterin Maedebach und Grünen-Politiker Krüger weisen auf die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen hin, um Lehrkräfte langfristig zu entlasten. »Ein Grundproblem ist, dass die pauschal angesetzten Unterrichtsstunden die einzige Grundlage für die Bemessung der Arbeitszeit sind – und das für alle Lehrkräfte gleichermaßen«, sagt Maedebach. Dabei bleibe außen vor, dass beispielsweise Musik- und Sportlehrer*innen in viel kleinerem Umfang abseits der Unterrichtszeiten noch Arbeiten korrigieren müssten. Diesen Unterschieden müsste stärker Rechnung getragen werden, »auch mit Blick auf das Gerechtigkeitsgefühl der Lehrer*innen«.
Krüger sagt, dass schon in der Planung, die Aufgaben, denen Lehrkräfte abseits des Unterrichts nachkommen müssen, stärker berücksichtigt werden sollten, sodass für deren Erledigung nach Möglichkeit gar keine Überstunden gemacht werden müssten. »Und dann stellt sich natürlich die Frage, wie die Überstunden kompensiert werden sollen. Ob monetär oder zeitlich.«
Bremen hat ein Pilotprojekt zur Arbeitszeiterfassung von Lehrkräften für das Schuljahr 2026/2027 Ende Mai beschlossen. An ausgewählten Schulen und begleitet von einer Arbeitsgruppe soll eine »zeitgemäße Arbeitszeiterfassung unter realen Bedingungen« getestet werden – »mit besonderem Fokus auf bislang wenig sichtbare, aber zeitintensive Aufgaben«. Die Zeiterfassung soll digital über eine App auf dienstlichen iPads erfolgen.
Wie heikel die bisherige Praxis für die Länder ist, zeigt ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg. Ein pensionierter Schulleiter hatte seine Mehrarbeit dokumentiert. Das Gericht entschied, dass das Land Niedersachsen die wöchentliche Mehrarbeit von 5 Stunden und 48 Minuten mit rund 31 000 Euro nachträglich zu vergüten habe.
»Die bisherige Praxis ist nicht rechtskonform und muss sowieso beendet werden. Hier muss das Land Berlin als Arbeitgeber seiner Verpflichtung nachkommen.«
Gökhan Akgün GEW-Landesvorsitzender
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