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- Interview mit Hartmut Lenhard
Geschichte Israels: Störfaktor im Selbstbild der Nation
Erstmals auf Deutsch: Benny Morris’ Studie »Die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsproblems«. Übersetzer Hartmut Lenhard im Gespräch
Herr Lenhard, Sie haben mit »Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems« ein Buch übersetzt, das schon 1988 auf Englisch erschienen ist. Wie der Historiker Philipp Lenhard in seinem Nachwort zur Übersetzung schreibt, handelt es sich bei der Studie des israelischen Historikers Benny Morris um die bislang genaueste Aufarbeitung des Exodus von etwa 700 000 arabischen Palästinenserinnen und Palästinensern von 1947 bis 1949 aus ihren Heimatorten. Warum ist niemand zuvor auf die Idee gekommen, das Buch ins Deutsche zu übertragen?
In der deutschen Politik der 80er Jahre waren die Flucht und Vertreibung der Palästinenser ein heißes Eisen. Einerseits bemühte man sich, der besonderen Verantwortung gegenüber Israel als jüdischem Staat gerecht zu werden und erkannte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) offiziell nicht an, andererseits unterstützte man über die UN-Organisationen palästinensische Flüchtlinge. Zudem beherrschte damals die dritte Generation der Roten Armee Fraktion (RAF), die mit palästinensischen Terrorgruppen zusammenarbeitete, die öffentliche Wahrnehmung. Ab 1989 verdrängte dann die deutsche Einheit viele außenpolitische Themen aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Das gilt auch für den Nahost-Konflikt, der von der breiten Öffentlichkeit in diesen Jahren eher am Rande verfolgt wurde.
2004 hat Benny Morris sein Buch überarbeitet. Unter anderem fügte er ein Kapitel hinzu, das sich mit der Idee des »Bevölkerungstransfers« im zionistischen Denken befasst. Doch auch die Neuausgabe stieß hierzulande nicht auf publizistisches Interesse.
Zum einen könnte dies in der Person des Autors begründet liegen. Morris war und ist aufgrund seiner akribischen, kompromisslosen Geschichtsschreibung und seiner politischen Haltung sowohl in Israel als auch unter Palästinensern umstritten. Dies mag bei deutschen Verlagen zur Sorge beigetragen haben, mit der Publikation eines solchen Buchs in ungewollte politische Kontroversen verwickelt zu werden. Zum anderen ist Morris’ Studie kein breitenwirksames Sachbuch, sondern ein umfassendes, wissenschaftliches Fachbuch. Morris geht methodisch reflektiert vor, setzt historisch gebildete Leserinnen und Leser voraus und hält – trotz aller Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs und an politischen Entscheidungen – an der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Staates Israel fest. Historische Werke dagegen, die Israels Existenz delegitimieren, verkaufen sich hierzulande besser. Dass Jüdinnen und Juden über ihren eigenen, wehrhaften Staat verfügen, ist für viele Israel-Kritiker ein Störfaktor – denn ihr Weltbild beruht darauf, Juden als schwach, abhängig und wehrlos zu sehen. Umgekehrt ist Morris’ Werk aber auch für manchen unreflektierten Israel-Freund ein Ärgernis, weil es seine Illusion eines moralisch überlegenen Staates zerstört.
Hartmut Lenhard studierte Evangelische Theologie und Germanistik und wurde 1976 an der Uni Bonn in Evangelischer Theologie promoviert. Er war 30 Jahre lang in der Lehrerausbildung tätig und ist langjähriges Mitglied mehrerer Bildungs- und Ausbildungs-Kommissionen der Evangelischen Kirche. Seit 2012 betätigt er sich im Forum Juden/Christen in Nordhorn (Niedersachsen). Er ist Verfasser zahlreicher religionspädagogischer Publikationen.
Gehen wir näher auf die Streitbarkeit von Morris ein. Nach Erscheinen des Buchs 1988 wurde er von zwei Seiten angegriffen, weil er sowohl das zionistische Narrativ widerlegt, demzufolge der arabische Exodus »freiwillig« stattgefunden habe, als auch das arabische, demzufolge hinter den Vertreibungen der Palästinenser ein systematischer Plan der Zionisten gestanden habe. Hat sich das Bild von Morris in bestimmten Milieus seitdem gewandelt? Hat etwa die israelische Gesellschaft als eine demokratische seine Erkenntnisse mittlerweile akzeptiert?
Meinem Eindruck nach sitzt Benny Morris bis heute zwischen den Stühlen. Er lässt sich bewusst nicht von der einen oder der anderen Seite vereinnahmen und versteht sich weiterhin – trotz aller Angriffe – als kritischer, linker Historiker, der an den Wert der Quellen glaubt und Geschichte sozusagen sine ira et studio zu rekonstruieren beabsichtigt. Dabei gerät er immer wieder in den Widerspruch zur offiziellen israelischen Politik wie auch zu palästinensischen Aktivisten. Bis jetzt konnte aber noch niemand den Kern seiner Erkenntnisse entkräften. Was die israelische Gesellschaft angeht, erscheint es mir zweifelhaft, ob wirklich eine breite Auseinandersetzung mit Morris’ Werk stattgefunden hat. Vielleicht passt das Bild eines fortwährenden »Stachels im Fleisch« der israelischen Selbstidentifikation hier besser.
Im Dezember wurde ein Vortrag von Morris an der Uni Leipzig als Reaktion auf antizionistische Proteste abgesagt. Die Aktivisten warfen Morris Rassismus vor und bezogen sich dabei vor allem auf ein Interview, das er der israelischen Zeitung »Haaretz« 2004 gegeben hatte. Darin bezeichnet er unter anderem diejenigen israelischen Staatsbürger, die ethnisch arabisch sind, als »tickende Zeitbomben«. In welchem Verhältnis sehen Sie dieses Interview zu Morris’ Forschung?
Zu dem blamablen Vorgang in Leipzig hat sich Morris selbst mehrfach geäußert. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Formulierungen des besagten Interviews von 2004 spiegeln die Verstörung, die die Terrorakte der Zweiten Intifada bei vielen Israelis ausgelöst haben. Das Gefühl, jeder Araber in Israel könnte ein potenzieller Terrorist sein und eine Bombe am Körper tragen, war damals virulent – so auch bei Morris. Das Vertrauen in ein kompromissfähiges und zur Verständigung bereites Gegenüber war verloren gegangen. Morris’ eigene Forschungen liegen meines Erachtens auf einer anderen Ebene, nämlich der des sorgfältigen Quellenstudiums und einer Interpretation, die unterschiedlichste Aspekte und Perspektiven in die Rekonstruktion der Geschichte einbezieht.
»Das Flüchtlingsproblem ist nach wie vor ein entscheidendes Hindernis für Verständigung zwischen Israel und den Palästinensern.«
Eine der wichtigsten Erkenntnisse Morris’ ist, dass der Exodus der Palästinenser auf viele verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. Dazu gehören die Angst vor dem Krieg, konkrete Anweisungen von Dorfvorstehern und Politikern vor Ort, aber in vielen Dörfern auch gewaltsame Vertreibungen. Morris resümiert, dass man auch insgesamt durchaus von »Vertreibung« sprechen könne, da die Palästinenser an einer Rückkehr gehindert wurden.
Ihr Hinweis, Morris halte den Begriff »Vertreibung« für den Exodus für angemessen, bezieht sich auf sein Fazit am Ende seiner Analyse. Als Grund für seine Einschätzung führt er an, dass man »die Rückkehr von Flüchtlingen um jeden Preis zu verhindern« suchte. Die deutschsprachige Ausgabe enthält allerdings auch ein aktuelles Interview mit Morris, in dem er seine frühere Schlussfolgerung relativiert und meint, der Begriff »Vertreibung« sei eine »unangemessene Bezeichnung für das meiste, was 1948 stattgefunden hat«. Der Großteil der Menschen sei vor dem Krieg und seinen Grausamkeiten geflohen und nur »vielleicht zehn oder 20 Prozent« seien vertrieben worden. Auch wenn den geflüchteten Arabern die Rückkehr ab Juni 1948 zunehmend nicht gestattet wurde, hält er den Begriff »Vertreibung« also als Benennung des gesamten Prozesses nicht mehr für passend. Was die zionistische Bewegung angeht, so hat man tatsächlich über Umsiedlungen in einem künftigen Staat Israel nachgedacht, aber man hat kein politisches Programm zur Vertreibung der Araber entwickelt.
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Welche Relevanz hat das Flüchtlingsproblem Ihrer Einschätzung nach für den Nahost-Konflikt?
Es steht außer Frage, dass das Flüchtlingsproblem nach wie vor ein entscheidendes Hindernis für jedwede Verständigung zwischen Israel und den Palästinensern ist. Auch daran sind die Verhandlungen 2000 in Camp David zwischen Ehud Barak und Jassir Arafat und 2008 zwischen Ehud Olmert und Mahmud Abbas gescheitert. Und die UNWRA [United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, Anm. d. Red.] ist ebenso wenig an einer Lösung interessiert wie die arabischen Staaten, stattdessen perpetuieren sie es. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip dominiert bis heute das Verhalten vieler Beteiligter. So wird der Gaza-Krieg von palästinensischer Seite und ihren Sympathisanten als Wiederholung der Nakba [arab. für Katastrophe, Unglück, Anm. d. Red.] – die Bezeichnung der Palästinenser für den Exodus 1947–1949 – interpretiert. Israel wird gar ein »Genozid« vorgeworfen. Umgekehrt wird von regierungsamtlicher Seite Israels betont, man befinde sich in einem legitimen Verteidigungskrieg gegen einen fanatischen Feind, der am 7. Oktober 2023 ein genozidales Massaker verübt habe. Und dieser Krieg müsse bis zur völligen Vernichtung der Terrorgruppen geführt werden.
Welche Hoffnungen verbinden Sie damit, dass das Buch nun einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich ist?
Morris’ Analyse warnt davor, die selektiven Nachrichten der jeweiligen Protagonisten des aktuellen Kriegsgeschehens, Fake News in den sozialen Medien und reißerische Pseudowahrheiten, die sich im gegenwärtigen Diskurs etwa mit den Stichworten »Kolonialismus« und »Apartheid« verbinden, ungeprüft hinzunehmen und lautstark in den Chor der vermeintlichen Experten einzustimmen. Insofern ist sein Buch ein Musterbeispiel für eine nüchterne, faktengestützte und differenzierte Konfliktaufarbeitung.
Benny Morris: Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems. Eine Neubetrachtung. Aus dem Englischen von Hartmut Lenhard. Hentrich & Hentrich, 826 S., br., 39 €.
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