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»The Life of Chuck« im Kino: Lostanzen, bevor das Licht ausgeht
Mike Flanagans Verfilmung der Kurzgeschichte »The Life of Chuck« von Stephen King ist wie ein transzendentes Gedicht, das noch lange nachhallt
Wenn wir das gesamte Alter des Universums auf ein einziges Jahr schrumpfen, taucht der Mensch erst in den letzten Sekunden des 31. Dezembers auf.» Dieser berühmte Satz des amerikanischen Astronomen und Astrophysikers Carl Sagan lässt den Menschen erschaudern – scheint doch unsere Existenz angesichts der kosmischen Zeit bedeutungslos zu sein.
Mike Flanagans zutiefst berührende Verfilmung einer Kurzgeschichte von Stephen King – in der diese Erkenntnis mehrfach vorgetragen wird – beweist auf das Zauberhafteste das Gegenteil.
«The Life of Chuck» gehört zu der Sorte Filmen, die man am liebsten gleich noch einmal anschauen möchte, nachdem der Vorhang gefallen ist. Oder bitte, bitte zumindest noch einmal diese eine Szene: die mitreißendste Tanzeinlage, seit Baby in «Dirty Dancing» ihrem Johnny in die Arme flog beziehungsweise seit Madds Mikkelsen am Ende des oscarprämierten Films «Der Rausch» einen wilden Solotanz hinlegte. Hier tanzt sich Marvel-Star Tom Hiddleston als Charles «Chuck» Krantz spontan frei – begleitet vom Schlagzeug einer Straßenmusikerin.
Doch bis es so weit ist, rollt Regisseur, Ko-Produzent, Cutter Flanagan, der auch die Adaption schrieb, Chucks Geschichte rückwärts auf: Zunächst lernen wir den Lehrer Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor) kennen. Während seines Unterrichts ereilt seine Schüler*innen die Nachricht, dass weitere Teile von Kalifornien im Meer versunken sind. Kurz darauf fällt das Internet komplett aus, Erdbeben und Vulkanausbrüche verschlingen große Teile der Erde, in Asien wütet die Beulenpest, und die Selbstmordrate steigt und steigt – ein von Kameramann Eben Bolter eindrucksvoll in Szene gesetztes, melancholisches Weltuntergangsszenario, das erschreckenderweise gar nicht so weit hergeholt wirkt.
Die Menschheit ist mittlerweile in der letzten Phase der Trauer angelangt: Akzeptanz. Auch Marty will nur noch eines – mit seiner geliebten Ex-Freundin Felicia (Karen Gillan) zusammensein, wenn auf der Erde im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgehen.
Gleichzeitig erscheinen überall mysteriöse Reklametafeln, auf denen ein freundlicher Anzugträger hinter seinem Schreibtisch abgebildet ist. Die Botschaft lautet immer gleich: «Charles Krantz: 39 wunderbare Jahre. Danke, Chuck.»
Im zweiten Akt lernen wir diesen mysteriösen Kerl – einen scheinbar gewöhnlichen Buchhalter – kennen und teilen mit ihm einen Moment der reinen Freude und Ekstase, als er seine Aktentasche abstellt und sich von den Trommelklängen einer Straßenmusikerin zunächst zu einem Solotanz hinreißen lässt, um dann mit einer zufälligen Zuschauerin eine herzzerreißende Sohle aufs Straßenparkett zu legen. Der Off-Erzähler teilt uns vorher mit, was Chuck zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: In neun Monaten wird er an einem Hirntumor sterben. Doch unser Wissen darum verstärkt noch die Kostbarkeit des Moments – ein Moment, in dem die Zeit und der Kosmos den Atem anzuhalten scheinen.
Im dritten Akt dieses furiosen Genre-Mixes zwischen Katastrophenfilm, Musical, Dramödie, Mystery und Coming-of-Age-Story dreht sich alles hauptsächlich um den zehnjährigen Chuck, hinreißend verkörpert von Benjamin Pajak: Er wächst bei seinen liebevollen Großeltern auf, da seine Eltern bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen sind. Von der Oma (Mia Sara) übernimmt er die Liebe zum Tanzen, der von Ex-Jedi-Ritter Mark Hamill verkörperte Opa bestärkt Chuck dagegen in seinem Talent für die Mathematik und beschützt ihn vor der Dachkammer in ihrem alten Haus – einem Raum, den wir alle gewissermaßen in uns tragen.
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Eine Lehrerin, gespielt von Flanagans Ehefrau Kate Siegel, gibt dem kindlichen Chuck ebenfalls einen entscheidenden Impuls, als er sie nach dem Unterricht nach der Bedeutung des Satzes «Ich enthalte Vielheiten» in Walt Whitmans Gedicht «Gesang von mir selbst» fragt. Behutsam nimmt sie Chucks Kopf und macht ihm klar, dass sich gerade ein ganzes Universum zwischen ihren Händen befindet.
Auch der junge Chuck schwebt einmal – mit seiner einen Kopf größeren Partnerin – über das Parkett, als wolle er der Schwerkraft spotten. So beseelt, dass so manchem nicht zum letzten Mal die Tränen in die Augen steigen.
So verwundert es nicht, dass Flanagan mit der Verfilmung eines weiteren Stoffes seines Lieblingsautors die Herzen des Publikums beim Filmfestival in Toronto im kosmischen Sturm erobert hat. Als Anerkennung erhielt er den «Audience Award», der als verlässlicher Indikator für spätere Oscar-Chancen gilt. (Der zu dem Zeitpunkt noch nicht vertriebsfähige Film setzte sich dort übrigens gegen den Kritikerliebling «Anora» durch, der in diesem Jahr den Oscar bekam.)
«Wer ein Herz hat, für den gibt es Hoffnung», sagt Chucks Opa einmal. Doch worauf kommt es am Ende an? Ein Film durchzogen von tiefer Einsicht in das Wesen der Existenz, ein Film wie ein transzendentes Gedicht, das noch lange nachhallt. Eine Erkenntnis ist jedoch leicht umsetzbar: Öfter mal die Aktentasche abstellen und lostanzen, all ihr sterblichen und großartigen Menschen da draußen.
«The Life of Chuck»: USA 2025. Regie und Buch: Mike Flanagan. Mit: Tom Hiddleston, Chiwetel Ejiofor, Jacob Tremblay, Mia Sara, Mark Hamill. 111 Min. Kinostart 24. Juli.
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