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- Deportation von Berliner Juden
Gleis 1 – Der vergessene Ausgangspunkt in den Tod
Eine neue Installation im Berliner Gleisdreieckpark erinnert an die Deportation von Berliner Juden
Am 17. Mai 1943, frühmorgens, steht Klaus Scheurenberg am Anhalter Bahnhof. Der Charlottenburger Jude ist einer von 100 Menschen, die an diesem Tag in einen Sonderwagen des sogenannten Karlsbader Bäderzuges steigen. »Für uns war ein Personenwagen reserviert«, erinnert sich Scheurenberg später. »Wir würden reisen wie andere Menschen auch. Eine Hochstimmung machte sich breit.« Noch glauben viele an einen Neuanfang. Vielleicht verhieß der »Heimeinkaufsvertrag« doch ihre Rettung?
Am Ziel jedoch wartet nicht das versprochene Heim, sondern Gewalt. »Alle Judensäue raus, aber ein bisschen plötzlich, sonst machen wir euch Beine!« Mit Schreien, Tritten und Peitschenhieben werden die Menschen aus dem Zug getrieben. Sie sind in Theresienstadt angekommen – einem Ghetto, das für viele die letzte Etappe vor den Vernichtungslagern bedeutete. Die durchschnittliche Lebenserwartung dort: rund 100 Tage.
Rund 15 000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden zwischen 1942 und 1945 nach Theresienstadt deportiert. Zwei Drittel davon bestiegen den Zug am Gleis 1 des Anhalter Bahnhofs. Nur etwa acht Prozent überlebten. Viele starben später in Auschwitz oder Treblinka – andere in Theresienstadt selbst, an Hunger, Krankheit oder völliger Entkräftung.
Lange Zeit beschränkte sich die Erinnerung an die Deportationen auf eine Aluminiumstele an der Ruine am Askanischen Platz. Das Gleis 1, von dem die Deportationszüge abfuhren, existiert nicht mehr – die Gleisanlagen im einstigen Bahngelände liegen teils überwuchert im heutigen Park am Gleisdreieck. Genau hier setzt die Arbeit der 2018 gegründeten Nachbarschaftsinitiative Gleis 1 an.
Von Spurensuche zum Erinnerungsweg
Bei Spaziergängen im benachbarten Park stießen Anwohner*innen auf die überwucherten Gleise und begannen zu recherchieren. »Wir wollten wissen, was hier einmal war«, erzählt Norbert Peters, pensionierter Geschichtslehrer und Mitbegründer der Gruppe. »Und wir stießen auf Ungeheuerliches: Diese Gleise waren Teil der Reichsbahn-Logistik zur Deportation. Menschen reisten von hier aus in den Urlaub, andere zur Arbeit – und manche in den Tod.«
Die Initiative suchte Kontakt zu Historiker*innen, Archiven und zum Dokumentationszentrum Yad Vashem. Sie organisierte Gedenkfahrten nach Theresienstadt, Lesungen, Filmabende, Konzerte mit Werken jüdischer Komponist*innen, die in Theresienstadt oder Auschwitz den Tod fanden. Ziel: Den neuen genossenschaftlichen Wohnkomplex mit 450 Wohnungen, der auf dem alten Bahngelände entstanden ist, in eine aktive Erinnerungskultur einzubinden. Um das zu unterstreichen, ergänzte man »Gleis 1« um den Untertitel »Der Ort, auf dem wir leben«.
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2024 wurde an der Kreuzung Yorck-/Katzbachstraße ein erstes Objekt aufgestellt – ein originaler Weichensteller, der beim Bau der Wohnanlage ausgegraben worden war. Es markiert symbolisch einen Ort, an dem sich Wege trennten: in Leben oder Tod.
Ein weiterer Erinnerungsort direkt an den Gleisen wurde am letzten Freitag eröffnet. Christine Berndt, Meisterschülerin der Kunsthochschule Berlin-Weißensee hat sich dem Thema künstlerisch genähert. »Ich will die Schiene selbst sprechen lassen«, sagt Berndt. Für die Arbeit »SchriftZug« wurden 20 Meter lange Kupferbänder auf die alten Gleise montiert, die mit ihren ausgestanzten Buchstaben einen Text freilegen, dessen Ursprung aus literarischen Quellen stammt. Ein Zitat stammt von der Nobelpreisträgerin Herta Müller, die es sich nicht nehmen ließ, persönlich zur Eröffnungsveranstaltung zu kommen. »Ich weiß, Du kommst wieder« – ein Satz aus ihrer Novelle »Atemschaukel«, der einem ins Arbeitslager Deportierten mit auf den Weg gegeben wurde. Heute, so Berndt, klinge er wie eine düstere Warnung: vor dem Wiedererstarken faschistischen Denkens in Europa.
Erinnerung als Verpflichtung
Die Initiative plant, mit weiteren Markierungen, Hintergrundinformationen und digitalen Angeboten einen »Weg der Erinnerung« vom ehemaligen Gleis 1 bis zu den Yorckbrücken zu schaffen, wo seit 2018 auch eine Hinweistafel zur Geschichte der Deportation steht. Doch dafür braucht es mehr Unterstützung. Besonders von der Deutschen Bahn, fordert Peters: »Die Bahn kann sich nicht auf dem Mahnmal Gleis 17 in Grunewald und vergangenen Zahlungen an die Stiftung Erinnerung, Vergangenheit und Zukunft ausruhen und ansonsten das zivilgesellschaftliche Engagement loben. Sie war aktiv beteiligt an Organisation und Durchführung der Deportationen. Eine echte Verantwortung sieht anders aus.«
Auch das Technikmuseum, das große Teile des ehemaligen Bahngeländes nutzt, zeigte bisher wenig Bereitschaft, das Gedenken im öffentlichen Raum sichtbarer zu machen. Bei der Eröffnung am »SchriftZug« signalisierten Vertreter*innen beider Institutionen, dass sie keine weiteren Erinnerungsprojekte auf dem Außengelände planen.
Doch die Mitglieder der Initiative geben nicht auf. Sie wollen, dass die Geschichte der Deportation nicht im Archiv und im Museum verstaubt, sondern im Wohnumfeld und im Stadtraum erfahrbar bleibt. Erinnerung dürfe nicht nur aus Granit bestehen, sie müsse sich bewegen, sichtbar sein, sagt Peters: »Gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus hilft kein Mahnmal, das angeschaut wird und wo ab und zu Kränze abgelegt werden, sondern Wege der Erinnerung, die Vergangenheit zum Sprechen bringen und zum Nachdenken provozieren.«
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