Deutschland profitiert von Gaza als Tech-Testlabor

Israel und US-Konzerne erproben Künstliche Intelligenz an der palästinensischen Bevölkerung

Der deutsch-israelische »Cyber- und Sicherheitspakt« soll auch Projekte zu Drohnen und Geheimdiensten beinhalten.
Der deutsch-israelische »Cyber- und Sicherheitspakt« soll auch Projekte zu Drohnen und Geheimdiensten beinhalten.

Gaza dient Israel schon lange als Erprobungsfeld für disruptive Militärtechnologien. Um die Jahrtausendwende testete die Armee erste bewaffnete Drohnen. Es folgten Land- und Seeroboter, Kamikaze- und Scharfschützendrohnen sowie biometrische und gesichtserkennende Systeme zur Erfassung und Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung. Mit der Offensive »Operation Guardian of the Walls« 2021 eröffnete Israel ein neues Kapitel: Die Streitkräfte (IDF) bezeichneten sie als weltweit »erste KI-Kriegserfahrung«.

Kernstück dieser Kriegsführung sind drei vernetzte Systeme. »Lavender« generiert massenhaft »Tötungsziele«, indem es Personen in Gaza auf Hamas-Zugehörigkeit bewertet – auf einer Skala von 1 bis 100. Mindestens 37 000 Menschen sollen bereits markiert worden sein, bei einer akzeptierten Fehlerquote von etwa zehn Prozent. Die menschliche Kontrolle ist minimal: Für »niederrangige« Ziele werden bis zu 20 zivile Todesopfer einkalkuliert, für »Hochwertziele« sogar bis zu 100.

Ergänzend analysiert »Gospel« Gebäude und identifiziert sie als mutmaßliche Hamas-Infrastruktur. Ähnlich wie »Lavender« verarbeitet es Daten aus Drohnen- und Satellitenaufklärung, sozialen Medien, Telekommunikation und biometrischer Überwachung.

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Das dritte System, »Where’s Daddy«, ortet Zielpersonen in Echtzeit. Kehren diese abends nach Hause zurück, können sie dort per Luftschlag getötet werden – dabei werden oft ganze Familien ausgelöscht. Entscheidungen über Leben und Tod treffen dabei häufig rangniedrige Offiziere – sie verlassen sich Recherchen zufolge weitgehend auf die Algorithmen.

Israel präsentiert seine KI-Kriegsführung inzwischen selbstbewusst. Beim erstmals 2024 ausgerichteten »DefenseTech Summit« in Tel Aviv trafen sich Militärs und Tech-Konzerne, um über autonome Drohnen, automatisierte Zielsysteme und KI-Waffentechnologie zu beraten. Der auf Prognosesoftware zur Entscheidungsunterstützung spezialisierte US-Konzern Palantir verkündete dabei, seit dem Angriff palästinensischer Gruppen auf Israel am 7. Oktober 2023 stünden zur Zusammenarbeit mit Israels Armee »alle Türen offen«.

Von der technologischen Aufrüstung profitiert eine Reihe weiterer US-Konzerne, die ihre Systeme in Gaza unter Realbedingungen testen können. IBM stellt eine Bevölkerungsdatenbank zur Verfügung, deren Informationen auch gegen Palästinenserinnen genutzt werden können. Hewlett Packard liefert Server für israelische Kontrollbehörden wie COGAT. Microsoft betreibt in Israel sein größtes Rechenzentrum außerhalb der USA; über die Azure-Cloud wird dort im Rahmen des Projekts »Nimbus« die IT-Infrastruktur für Militär, Polizei, Gefängnisse und illegale Siedlungen bereitgestellt. Google und Amazon investieren gemeinsam 1,2 Milliarden Dollar in diese Cloud-Struktur – die Basis für KI-gestützte Überwachung und Tötung.

Parallel dazu baut Israel eine umfassende digitale Propagandamaschinerie auf. KI und soziale Medien bilden eine neue Front gegen die schwindende westliche Unterstützung für Israels mörderische Gaza-Politik. Seit März 2025 betreibt die Regierung einen »Media War Room«, der Online-Inhalte beobachtet und automatisiert Gegennarrative verbreitet – etwa gegenüber europäischen Zielgruppen oder US-Jüd*innen, darunter auch Kinder. Je nach Kontext inszeniert sich Israel als Opfer oder als ordnende Macht im Nahen Osten.

Noch sind – soweit bekannt – keine deutschen Unternehmen direkt an Israels militärischer KI-Entwicklung beteiligt. Doch Regierung und Institutionen arbeiten an einer Annäherung. Im Februar berieten etwa Mitarbeitende der Bundeswehr-Universität, der Helmholtz-Gemeinschaft – Deutschlands größter Wissenschaftsorganisation – und des Rüstungsfonds Protego am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, was Deutschland von Israels »Softwarekrieg« lernen könne – Tempo und Kommerzialisierung galten dabei als vorbildlich.

»Verträge mit Israel ohne Transparenz gegenüber dem Bundestag sind keine legitime Regierungspolitik, sondern Kopf-durch-die-Wand-Politik«.

Jan Köstering  Linke-MdB

Eine Schlüsselrolle bei der Vernetzung militärischer, industrieller und politischer Akteur*inen übernimmt die pro-israelische Lobbyorganisation Elnet (European Leadership Network). Zur Intensivierung der Kooperation rief sie die »Security and Defense Initiative« (Esdi) ins Leben – mit Fokus auf KI, Drohnen, Weltraum-, Nano- und Biotechnologie. Geplant ist außerdem eine gemeinsame »Verteidigungsakademie«. Elnet sieht Israel dabei als Innovationsmotor und Deutschland als lukrativen Sicherheitsmarkt. Beteiligte deutsche Firmen sind Dussmann (»Code Blue«), Rohde & Schwarz, Lufthansa Technik Defense und der Panzergetriebehersteller Renk.

Das Bundesverteidigungsministerium bestätigt auf Nachfrage des »nd« seine Beteiligung an der Elnet-Initiative. Als Beispiele nennt das Ministerium den Kauf des Arrow-Flugabwehrsystems sowie »gemeinsame Projekte, Übungen und Innovationen« – etwa zur Terrorismusbekämpfung und »Fähigkeitsentwicklung der Streitkräfte«. Bei der Esdi-Gründung am 10. Juli hielt der Generalinspekteur der Bundeswehr eine Keynote zur Kooperation. Konkreter wolle sich das Ministerium aber »noch nicht äußern«.

Elnet bereitet mit Esdi auch das Feld für einen »Cyber- und Sicherheitspakt«, den die Bundesregierung mit Israel schließen will. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) kündigte dafür bei einem Besuch in Tel Aviv jüngst einen »Fünf-Punkte-Plan« an. Ziel ist die Ausweitung der Militär-, Geheimdienst- und Cyberkooperation – womöglich auch mit Ex-Mitarbeitenden der berüchtigten »Unit 8200«, die für militärische digitale Operationen zuständig ist. Sie besetzen zentrale Posten in Israels Tech-Industrie, internationale Bekanntheit erlangten dazu die NSO Group und ihre Pegasus-Spyware, die von Regierungen weltweit gegen Journalist*innen und Aktivist*innen eingesetzt wird. Eine Recherche enthüllte zudem, dass die »Unit 8200« ein KI-basiertes Sprachmodell entwickelt hat, das mit Milliarden abgehörter Gespräche von Palästinenser*innen trainiert wird.

Dobrindts Plan umfasst: Erstens eine vertiefte Zusammenarbeit in der Cyberabwehr. Zweitens die Gründung eines Zentrums für deutsch-israelische Cyberforschung. Drittens könnte Deutschland von israelischer Technologie zur Drohnenabwehr profitieren. Viertens wird eine Neugestaltung des deutschen Bevölkerungsschutzes nach israelischem Vorbild angestrebt. Fünftens soll die Geheimdienstkooperation ausgebaut werden – insbesondere zwischen dem Bundesnachrichtendienst und dem Mossad. Das soll laut Dobrindt nicht nur die militärische, sondern »gesamtgesellschaftliche Verteidigungsfähigkeit« stärken – wohl auch als Ersatz für die angeschlagene US-Zusammenarbeit unter dem Präsidenten Donald Trump.

Das Bundesinnenministerium nannte zum Zeitplan für den Abschluss des Pakts gegenüber »nd« lediglich die Angabe »in naher Zukunft«. Der Linke-Abgeordnete Jan Köstering, Sprecher für Bevölkerungsschutz, hatte mit einer parlamentarischen Anfrage Einblick in die deutsche Verhandlungsposition verlangt. Die Antwort: »Da der Cyber- und Sicherheitspakt noch nicht vereinbart ist, können hierzu derzeit keine weiteren Einzelheiten mitgeteilt werden.« Köstering zeigt sich irritiert: Verträge mit Israel ohne Transparenz gegenüber dem Bundestag seien keine legitime Regierungspolitik, sondern »Kopf-durch-die-Wand-Politik«.

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