Syrien: Fragile Ruhe nach dem Blutbad

Augenzeuge berichtet von grausamen Massakern an Zivilisten

  • Jakob Helfrich
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Kämpfer der Regierung sitzt vor einem beschädigten Laden nahe der Stadt Suweida.
Ein Kämpfer der Regierung sitzt vor einem beschädigten Laden nahe der Stadt Suweida.

Nach den tagelangen Kämpfen in der südsyrischen Provinz Suweida kursieren im Internet immer mehr Bilder von Erschießungen drusischer Familien in der Stadt in den Tagen zuvor. Mehr als 1200 Menschen sollen nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) in den vergangenen Tagen in der Region ums Leben gekommen sein. Mehr als 128 000 wurden in der gleichen Zeit nach UN-Angaben vertrieben. Erst am Montag kamen sowohl bei den Vertriebenen als auch in Suweida selbst humanitäre Hilfslieferungen an.

Die langfristige Perspektive in der Region scheint ungewiss. Der Kommandeur für innere Sicherheit der Provinz erklärte gegenüber der dpa, dass die nun anlaufenden Evakuierungen von beduinischen Familien darauf ausgelegt seien, die Spannungen zu reduzieren. Ob es allerdings eine Perspektive für die Rückkehr der über 1600 Personen gibt, die in die angrenzende Region Daraa gebracht wurden, ist weiter unklar. Diese Frage könnte neue Spannungen für die Zukunft mit sich bringen.

Ungeklärtes Verhältnis zwischen Zentralregierung und Provinzen

Auch die grundlegenden Fragen zwischen Suweida und der Zentralregierung in Damaskus sind weiter ungeklärt. Schon vor dem Sturz des langjährigen Diktators Baschar Al-Assad hatte es in der Region immer wieder Proteste mit Forderungen nach größerer Autonomie und Selbstbestimmung gegeben. Die jüngste Eskalation dürfte dies verstärkt haben. Ein Journalist aus Suweida erklärte unter der Bedingung der Anonymität gegenüber »nd«: »Ich habe die Massaker mit meinen eigenen Augen gesehen. Als ich eine Familie aus der Stadt evakuiert habe, habe ich die Leichen im Nationalkrankenhaus gesehen. Es war komplett verwüstet. Das hat hier den Eindruck verstärkt, dass es keine Sicherheit in diesem Land gibt.«

»Die Kämpfer der sogenannten ›inneren Sicherheit‹ bekommen 20 Tage lang Sharia-Kurse, bevor sie für die Regierung eingesetzt werden.«

Journalist aus Suweida,
der anonym bleiben will

An den Übergriffen auf die Zivilbevölkerung in Suweida waren, wie Videos zeigen, auch Einheiten beteiligt, die Uniformen der HTS, der Miliz des Übergangspräsidenten Ahmad Al-Scharaa, trugen. Die SOHR spricht von 194 Hinrichtungen durch Streitkräfte des syrischen Staates. Ob diese eigenmächtig handelten oder Befehlen folgten, ist derweil unklar. Das Vertrauen in die Zentralregierung dürften diese Aktionen allerdings nicht nur bei den Drusen, sondern genauso bei anderen Minderheiten in Syrien nachhaltig verringert haben.

Der Anspruch der Übergangsregierung, alle bewaffneten Gruppen in die syrische Armee zu integrieren, was bis jetzt vor allem mit anderen islamistischen Gruppen erfolgreich war, dürfte auch genau deshalb in weitere Ferne gerückt sein. »Die Kämpfer der sogenannten ›inneren Sicherheit‹ bekommen 20 Tage lang Sharia-Kurse, bevor sie für die Regierung eingesetzt werden. Auf der Basis von Streitigkeiten von Gemeinschaften rekrutiert sie viele Kämpfer ohne jede Qualifikation oder Training. Manchmal bekommen diese wenige Tage nach der Rekrutierung schon ihre Identifikationskarten« (als Sicherheitskräfte, Anm. d. Red.), erklärt der Journalist weiter. Für eine langfristige Lösung müssten die Drusen sich selbst verwalten dürfen und eine Repräsentation innerhalb der staatlichen Institutionen erhalten.

Selbstverwaltung in Nordostsyrien beobachtet die Entwicklungen

Auch die Selbstverwaltung in Nordostsyrien dürfte den Konflikt in den vergangenen Tagen eng beobachtet haben. Schon seit März befindet sie sich mit der syrischen Regierung rund um Al-Scharaa in Verhandlungen über eine ähnliche Integration in die staatlichen Strukturen. Zwar unterstützte sie in den vergangenen Tagen die drusischen Einheiten nicht direkt, verschiedene politische Vertreter der Selbstverwaltung riefen allerdings wiederholt zur Deeskalation und zum Dialog auf. Auch ein Hilfskonvoi aus den Gebieten der Selbstverwaltung wurde angekündigt. Meldungen, dass die USA und die Türkei den kurdischen Selbstverteidigungskräften (SDF) am Montag ein 30-tägiges Ultimatum zur Eingliederung in die syrische Armee gegeben hätten, wies die SDF noch am selben Tag zurück.

Wie es bei den Verhandlungen, die zuletzt stockten, weitergehen wird, und auch, ob es zu einer dauerhaften Lösung in Suweida kommt, dürfte von den kommenden Tagen abhängen und davon, ob die Waffenruhe hält. Am Montag wurde ein erster Teil eines Gefangenenaustausches zwischen Drusen einerseits und HTS und Beduinen andererseits durchgeführt.

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