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Deutsche Algorithmen halten Israel-Kritik für Judenhass
Das Projekt »Decoding Antisemitism« entwickelt eine KI-Polizei für Kommentare in Sozialen Medien
Vor sechs Jahren rief das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin das Projekt »Decoding Antisemitism« ins Leben. Hauptziel war die Entwicklung eines KI-Sprachmodells, das antisemitische Inhalte in Kommentarspalten in Sozialen Medien erkennt und dem Plattformanbieter auzur Löschung meldet. Laut dem Projektleiter geht es dabei nicht vorrangig um Antisemitismus der politischen Rechten – seiner verbreitetsten und gefährlichsten Form. Im Fokus steht der Antisemitismus der bürgerlichen Mitte, der sich vor allem in impliziter, verbaler Form ausdrückt.
Um das Sprachmodell zu trainieren, sammelte »Decoding Antisemitism« 103 000 Online-Kommentare, von denen sich rund zwei Drittel auf Palästina und Israel beziehen. Jedoch stellt das Projekt seine Datenerhebung und Analyse nicht wie in diesem Feld üblich anderen Wissenschaftler*innen zur Verfügung, um das methodische Fundament und die Umsetzung kritisch zu durchleuchten. Die wenigen öffentlich zugänglichen Details verfestigen den Eindruck, dass es »Decoding Antisemitism« in erster Linie darum geht, pro-palästinensische Stimmen zu sanktionieren.
Deutlich wird dies an der Sammlung von 21 000 Kommentaren nach dem 7. Oktober 2023. Laut »Decoding Antisemitism« sollen rund 2400 (zwölf Prozent) davon antisemitisch gewesen sein: Etwa, weil sie Israel Faschismus, Apartheid und Kolonialismus unterstellen oder sein Existenzrecht infrage stellen. Zudem sei es antisemitisch, wenn auf die Kampagne »Boykott, Desinvestition und Sanktionen« (BDS) verwiesen wird – die ist seit ihrer Gründung vor 20 Jahren vor allem auf die von Israel völkerrechtswidrig besetzten Gebiete gemünzt. Der Staat dürfe zudem nicht als rassistisch bezeichnet oder des Völkermords bezichtigt werden. Schließlich sei es antisemitisch, wenn Israel die alleinige Schuld am derzeitigen Leid der Palästinenser*innen im Gaza-Krieg gegeben wird.
Jedoch ist keine dieser Behauptungen und Anschuldigungen per se antisemitischer Natur. Deshalb ist »Decoding Antisemitism« auch von wenig Nutzen, Rückschlüsse auf antisemitische Motivationen von Verfasser*innen der Kommentare ziehen zu können. Ein Beispiel dieser fragwürdigen Herangehensweise ist der Umgang mit Kommentaren über die Tötung palästinensischer Kinder durch die israelische Armee. Laut »Decoding Antisemitism« sind derartige Anschuldigungen antisemitisch, da sie auf die mittelalterliche Kindermord-Legende anspielten – ein im 12. Jahrhundert entstandenes antisemitisches Gerücht, das behauptete, Jüd*innen würden christliche Kinder entführen, foltern und töten, um ihr Blut für das Pessachfest zu verwenden.
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Wie die Tötung palästinensischer Kinder mit dieser christlichen Ritualmord-Legende zusammenhängen soll, erläutern Mitarbeitende von »Decoding Antisemitism« in einem »Guide to Identifying Antisemitism Online«, einem fünfhundert Seiten umfassenden Glossar. Darin wird aber die Tatsache geleugnet, dass die israelische Armee nachweislich seit Jahrzehnten auch palästinensische Kinder und Jugendliche tötet oder schwer verletzt – zu Tausenden derzeit im Gaza-Krieg.
Als Beleg einer antisemitischen Konnotation derartiger Kommentare führt »Decoding Antisemitism« deren »emotionale Intensität« an – andere mögliche Motivationen, warum jemand emotional auf getötete Kinder reagieren könnte, werden nicht in Betracht gezogen. Natürlich ist es denkbar, dass die Verfasser*innen an die Kindermord-Legende dachten – ihre Kommentare allein sind jedoch kein Beweis dafür.
Eine seriöse und wissenschaftlich robustere Herangehensweise würde den Kontext dieser Kommentare genauer betrachten, um so deren Motivation zu ergründen. Ohne eine solche Analyse führen die Schlüsse dazu, dass man den Verfasser*innen Antisemitismus andichten muss, um ihn im nächsten Schritt gefunden zu haben – ein Zirkelschluss. Die von »Decoding Antisemitism« entwickelte KI interessiert sich vor allem für Phrasen und Buzzwords und ist deshalb keine wissenschaftlich begründete Methodik. Damit ist sie auch ungeeignet, Antisemitismus ernsthaft zu bekämpfen.
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