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- Film "Memoiren einer Schnecke"
Ein Leben hinterm Schutzschild
In »Memoiren einer Schnecke« berührt der australische Regisseur Adam Elliot erneut mit seinen Knetfiguren
Wie in »Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?«, wo ein kleines Mädchen und ein autistischer Mann Brieffreunde werden, widmen Sie sich auch dieses Mal einfühlsam Figuren am Rande der Gesellschaft. Wie persönlich ist »Memoiren einer Schnecke«?
In jedem Film, den ich mache, gibt es immer ein oder zwei Familienmitglieder, auf denen ich eine Figur aufbaue. Grace basiert in Teilen auf meiner Mutter, die gerne Dinge gesammelt hat. Eine Freundin von mir ist wie sie mit einer Gaumenspalte zur Welt gekommen und so steckt viel von ihrer traumatischen Kindheit darin. Es gibt viele Ausschmückungen und Dinge, die komplett erfunden und ausgedacht sind. »Mary & Max« basiert auf meinem Brieffreund in New York, der letztes Jahr verstorben ist. Noch heute schreiben mich vor allem junge Leute an, die sich mit Max in »Mary & Max« identifizieren – vor allem, wenn sie dem autistischen Spektrum angehören. Ich hoffe, bei »Memoiren einer Schnecke« ist das ähnlich.
Grace wird als Kind von ihrem Zwillingsbruder getrennt. Sie sammelt Schnecken in jeglicher Form und freundet sich später mit einer älteren Dame (Pinky) an. Ich habe sie sehr ins Herz geschlossen. Welches Geheimnis steckt dahinter?
Alles hängt mit der filmischen Idee zusammen, dass wir alle loslassen müssen, um den Schauspielern zu glauben. Das ist bei Animationsfilmen nicht anders. Die zusätzliche Herausforderung bei Stop-Motion-Technik besteht darin, dass das Publikum weiß, dass es sich im Wesentlichen nur um Klumpen aus Knete handelt. Von der ersten Sekunde an muss man sie davon überzeugen, dass sie echt sind, eine Seele und einen Herzschlag haben. Das ist nicht einfach. Ich habe zweieinhalb Jahre mit Schreiben verbracht und viele, viele Entwürfe angefertigt, um diese Figuren so authentisch wie möglich zu gestalten.
Wie gelingt Ihnen das, dass man den Stop-Motion-Figuren so gerne folgt?
Man muss sich in die Figur hineinversetzen und mit ihr in Resonanz treten können. Wir hatten zum Beispiel alle schon mal Pech in unserem Leben. Grace hat sehr viel Pech. Wir alle kennen das Gefühl, nicht dazuzugehören und einsam zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Pinky, die uns an unsere exzentrische Tante erinnert oder an Menschen aus unserem Leben, die eine überbordende Lebensfreude haben. Eine Freundin von mir hat einmal mit Fidel Castro Tischtennis gespielt. Zuerst habe ich’s ihr nicht geglaubt, aber dann doch. Sie ist Pinky für mich. Pinky ist frech, rebellisch und kümmert sich nicht darum, was andere über sie denken. Sie ist jemand, der wir sein möchten, wenn wir älter werden, während Grace eine Figur ist, die wir meiner Meinung nach schon sind.
Adam Elliot, 1972 in Melbourne geboren, gewann 2004 einen Oscar für seinen animierten Kurzfilm »Harvie Krumpet«. Sein erster Spielfilm »Mary & Max«, der in Stop-Motion gedreht wurde, feierte 2009 auf dem Sundance Premiere und eröffnete auch das Festival. »Memoiren einer Schnecke« war 2025 für einen Oscar in der Kategorie »Bester Animationsfilm« nominiert.
Ich denke, es geht dabei auch viel darum, den richtigen Ton zu treffen, um Menschen zu berühren …
Sarah Snook hat dabei wunderbare Arbeit geleistet. Wir haben viel Zeit zusammen im Aufnahmestudio verbracht, um diese Intimität zu erreichen. Ich habe eine der Sylvia-Schnecken mitgebracht, sie neben Sarah gesetzt und Sarah dann gebeten, einfach die nächsten paar Stunden mit Sylvia zu sprechen und das Licht gedimmt. Ich wollte, dass es sich anfühlt, als wäre sie um zwei Uhr morgens in einer Bar und würde einer Person – oder in diesem Fall einer Schnecke – ihre Lebensgeschichte erzählen. Wir haben schnell vergessen, dass es sich um einen Animationsfilm handelt.
Was ist wichtig, wenn jemand eine Ihrer Figuren spricht?
Wir streben nach Realismus, so gut es geht. Das Problem mit Schauspielern ist, dass sie bei Animationsfilmen dazu neigen, ihre Stimmen cartoonhaft zu überzeichnen. Genau das wollten wir nicht! Wir wollten echte, wahrhaftige Stimmen haben und keine falschen Akzente. Deshalb habe ich Dominique Pinon für die Figur des Vaters von Gilbert und Grace engagiert. Der Vater war einst Straßenkünstler in Paris. Da Pignon französischsprachig ist, passt er perfekt.
Warum »Memoiren einer Schnecke« und nicht etwa Memoiren eines anderen Tieres?
Ich sehe Schnecken als die Introvertierten der Tierwelt. Wenn man ihre Antennen berührt, ziehen sie sich in ihr Gehäuse zurück. Das tut Grace ihr ganzes Leben lang. Sie zieht sich vor Schmerz und Trauma zurück und nutzt das Horten als eine Art Puffer und Schutzschild vor weiterem Schmerz. Ich mag auch den eleganten Wirbel auf einem Schneckenhaus. Der Wirbel ist ein schönes Symbol für das Leben, das sich im Kreis dreht. Außerdem habe ich herausgefunden, dass sich Schnecken nur vorwärts bewegen können. Das passt sehr gut zu dem Zitat von Søren Kierkegaard: »Das Leben kann nur rückwärts verstanden, aber nur vorwärts gelebt werden.« Vor allem von jungen Menschen, die dieses Zitat sehr tiefgründig finden, bekomme ich viele E-Mails und Nachrichten. Sie glauben, dass es von mir stammt.
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Stop-Motion ist ziemlich aufwendig. Über welche Zahlen reden wir?
Hunderte von Leuten haben an dem Film mitgearbeitet. Es wurden 200 Sets gebaut und etwa ebenso viele Knetfiguren hergestellt, was vier Monate gedauert hat. Die Herstellung jeder Figur dauerte bis zu fünf, sechs Wochen und kostete circa 10 000 bis 15 000 Dollar. Wir haben nie nachgezählt, aber schätzungsweise gab es zwischen 5000 und 7000 Requisiten, einschließlich der ganzen Schneckenhorde. Der Film hat sieben Millionen australische Dollar gekostet; die Knetmasse war der billigere Teil.
Der Film heißt »Memoiren einer Schnecke«, die Produktionsfirma »Snails Pace Films«. Wie lange hat es gedauert, um den Film zu realisieren?
Sieben Animateure haben jeweils etwa fünf bis zehn Sekunden pro Tag erarbeitet. Insgesamt hat es 32 Wochen gedauert, um die Knetfiguren zu animieren. Die Musik wurde von Grund auf neu komponiert. Nach der Aufnahme dauerte es sechs Monate, das komplette Orchester nachzubearbeiten. Insgesamt haben wir den Film in weniger als sieben Jahren fertiggestellt. Im Vergleich dazu brauchen »Avatar«-Filme für die Umsetzung ewig. Ich arbeite schon an meinem nächsten Spielfilm – einem australischen Roadmovie. Ich möchte keine Geschichten mehr über Menschen erzählen, die in ihren Vorort-Schlafzimmern festsitzen.
»Memoiren einer Schnecke«: Australien 2024, Regie und Drehbuch: Adam Elliot. 95 Minuten, Start: 24. Juli.
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