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Nervosität in Tel Aviv
Die israelische Regierung reagiert zunehmend verärgert über die Unterstützung zahlreicher europäischer Staaten für einen palästinensischen Staat
Die für September angekündigte Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Frankreich und Kanada hat in Israel, Palästina und der Region heftige Reaktionen ausgelöst. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu bezeichnet die Entscheidung wütend als Belohnung für die Hamas. Politiker in Bagdad, Ramallah oder Kairo sind hingegen erleichtert, dass endlich Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen zu einem Kriegsende und Frieden kommt.
Die Rede von Großbritanniens Premierminister Keir Starmer sehen viele in der Region als Strategiewechsel des Westens. Starmer hatte von der israelischen Regierung am Dienstag einen sofortigen Waffenstillstand und die Beendigung der Hungersnot in Gaza gefordert, ansonsten würde auch Großbritannien während der für September angesetzten Vollversammlung der Vereinten Nationen die besetzten palästinensischen Gebiete als eigenständigen Staat anerkennen.
Vor allem in der jordanischen Hauptstadt Amman herrscht seit Monaten die Furcht, dass die von israelischen Radikalen angestrebte Vertreibung möglichst vieler Palästinenser aus der Westbank und dem Gazastreifen eine Flüchtlingswelle auslösen könne. Bereits jetzt stammt mehr als die Hälfte der Bevölkerung Jordaniens aus Palästina. »Bisher hatte die israelische Regierung doch freie Hand durch ihre westlichen Verbündeten«, klagt Saleh Nadschi, der Besitzer eines Elektroladens im Zentrum von Amman. Seine Eltern waren nach dem Sechs-Tage-Krieg aus Gaza in das Nachbarland geflohen, daher stellen ihm die Behörden nur einen vorläufigen Reisepass aus, obwohl er in Amman geboren ist. »Es geht nicht nur darum, dass Palästina endlich ein Staat wird. Es geht darum, die Destabilisierung der Region durch eine neue Flüchtlingswelle zu verhindern.«
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Kaum jemand im Land glaubt jedoch, dass die für September erwartete Welle neuer Anerkennungen Folgen haben wird. In einem Café neben Nadschis Laden wird heftig diskutiert. Aber nicht über die Politik der westlichen Länder in der Region, sondern über die Sanktionen, die US-Präsident Donald Trump gegen einige Vertreter der Autonomiebehörde in Ramallah verhängt hat. Ein Geschäftsmann aus Ramallah ist wütend: »Präsident Abbas ist schon dadurch geschwächt, dass die israelische Regierung Teile der Steuereinnahmen zurückhält. Jetzt, während große Teile des Westjordanlands von jüdischen Siedlern besetzt werden, wird die Autonomiebehörde entmachtet. Die westlichen Diplomaten schauen stumm zu, wie der palästinensische Staat demontiert wird, bevor er überhaupt entsteht.«
Dabei können palästinensische Diplomaten durchaus einige Erfolge vorweisen. Palästina hat bei der Uno Beobachterstatus, 147 von 193 Ländern erkennen einen palästinensischen Staat bereits heute an. Die Kriterien für die Anerkennung eines Staates erfüllt Palästina laut der Konvention von Montevideo aus dem Jahr 1938 ebenfalls: Es hat eine ständige Bevölkerung, seit 1967 festgelegte Grenzen, eine in Ramallah tagende Regierung und diplomatische Beziehungen zu der großen Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Seitdem Irland, Slowenien und Spanien den Schritt im Juni unternommen haben, wird in vielen Hauptstädten auf der Welt hinter verschlossenen Türen erwogen, die Idee einer Zweitstaatenlösung durch die Anerkennung Palästinas wiederzubeleben.
Auf einer UN-Konferenz in New York haben am Mittwoch mehrere arabische Staaten das Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza und konkrete Schritte zu einer Zweistaatenlösung gefordert. In einem siebenseitigen Papier forderten 17 Staaten die Machtübergabe an die Autonomiebehörde und die Stationierung von Blauhelmsoldaten in Gaza und dem Westjordanland.
Das damit verbundene Ende der Besatzung ist in Israel jedoch unpopulär. Oppositionsführer Jair Lapid sieht die Anerkennung eines palästinensischen Staates ohne festgelegtes Staatsgebiet als kontraproduktive Symbolpolitik. Parlamentssprecher Amit Ohana legte in Genf auf einer Konferenz der Vereinten Nationen für Parlamentarier aus aller Welt alle diplomatische Zurückhaltung gegenüber den ältesten Verbündeten Israels ab. »Der sogenannte Frieden, den sie mit der Anerkennung durchsetzen wollen, wird nur zu mehr Krieg führen. Europa ähnelt nun immer mehr dem Mittleren Osten. Wenn Paris und London einen palästinensischen Staat wollen, sollen sie diesen in ihrem Land gründen.«
Doch die israelischen Versuche, die öffentliche Meinung in Europa zu beeinflussen, wirken zunehmend verzweifelt. Sloweniens Premierminister Robert Golob hält die Entscheidung der Anerkennung rückblickend als die wichtigste und ehrenhafteste außenpolitische Entscheidung in der Geschichte seines Landes. »Die Existenz eines palästinensischen Staates ist die fundamentale Voraussetzung für den Frieden in der gesamten Region.«
Für Israels Premier Netanjahu ist es ein Rennen gegen die Zeit. Er besitzt nur noch eine hauchdünne Mehrheit in der Knesset und steht unter dem Druck seiner radikalen Koalitionspartner. Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir drohen schon im Falle eines Waffenstillstandes mit der Aufkündigung der Koalition. Die große Mehrheit der Israelis lehnt einen palästinensischen Staat ab, laut aktueller Meinungsumfragen befürworten aber 65 Prozent die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen.
»Die westlichen Diplomaten schauen stumm zu, wie der palästinensische Staat demontiert wird, bevor er überhaupt entsteht.«
Geschäftsmann aus Ramallah
Ben Gvir lebt in der Siedlung Kirjat Arba am Stadtrand von Hebron und will sowohl den Gazastreifen als auch das Westjordanland an Israel angliedern. Das in der rechten Szene propagierte »Eretz Israel«, ein »Großisrael« soll auch den Süden Libanons, die Ausläufer der Golan-Höhen und den Süden Syriens beinhalten.
Auf die Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron reagierte er im israelischen Fernsehen gelassen und menschenverachtend zugleich: »Wir dürfen einfach nichts mehr übriglassen, was als Staat anerkannt werden könnte.« Mit von Finanzminister Smotrich freigegebenem Geld sichert Ben Gvirs Ministerium derzeit den Ausbau von neuen Siedlungen im Westjordanland ab, insgesamt 400 sollen in diesem Jahr dazukommen.
Offiziell hielt sich der israelische Staat bisher an das Oslo-Abkommen, auf das sich der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Urteil im letzten Jahr berief, als er die israelische Armee zum Rückzug aus den besetzten Gebieten aufforderte. Doch in der vergangenen Woche stimmte die Knesset in einer nichtbindenden Resolution für eine Annexion. Es war wohl dieser Testballon der israelischen Ultrarechten, der in europäischen Hauptstädten die Alarmglocken klingeln ließ.
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