Israel stellt Untersuchungen zu Kriegsverbrechen häufig ein

Nur eine von 52 dokumentierten Ermittlungen führte zu Verurteilung

Mahnwache in New York für die von der IDF getötete fünfjährige Hind Rajab. Auch dieses Verbrechen in Gaza bleibt ungesühnt.
Mahnwache in New York für die von der IDF getötete fünfjährige Hind Rajab. Auch dieses Verbrechen in Gaza bleibt ungesühnt.

Die israelische Regierung betont nach Vorwürfen wegen Verbrechen gegenüber Palästinenser*innen, diese stets gründlich zu untersuchen – allerdings durch die eigenen Streitkräfte (IDF). Ein nun vorliegender Bericht der Londoner Organisation Action on Armed Violence (AOAV), die Forschung zu bewaffneter Gewalt betreibt, widerlegt dies als Beschwichtigung: In 88 Prozent der Fälle, in denen die Armee Ermittlungen zu Vorwürfen von Kriegsverbrechen in Gaza und dem Westjordanland ankündigte, blieben diese entweder ohne öffentliches Ergebnis oder wurden ohne Schuldspruch geschlossen. Nur in einem einzigen Fall – weniger als zwei Prozent – führten die Untersuchungen zu einer Gefängnisstrafe.

Die Untersuchung betraf 52 öffentlich dokumentierte Fälle, die sich zwischen Oktober 2023 und Juni 2025 ereigneten. Dabei starben insgesamt 1303 Menschen, 1880 wurden verletzt und zwei gefoltert. Lediglich sechs Fälle führten laut AOAV zu einer Anerkennung von Fehlern durch das israelische Militär. Bei 39 Fällen – drei Viertel aller Untersuchungen – gibt es bis heute kein offizielles Ergebnis oder sie gelten als offen.

Zu den unaufgeklärten Fällen gehören die Tötung von mindestens 112 Palästinenser*innen, die im Februar 2024 in Gaza-Stadt nach Mehl anstanden, sowie ein Luftangriff, bei dem drei Monate später 45 Menschen in einem Zeltlager in Rafah getötet wurden. Auch die Tötung von 31 Palästinenser*innen, die am 1. Juni dieses Jahres Lebensmittel an einem Verteilungspunkt abholen wollten, bleibt ungesühnt – Israels Armee bezeichnete Berichte darüber zunächst als falsch, teilte jedoch dem britischen »Guardian« mit, der Vorfall werde »noch überprüft«.

Zu den bestätigten Verstößen gehören der Angriff auf das Maghazi-Flüchtlingslager am 24. Dezember 2023 mit 86 Toten, bei dem die Armee ungeeignete Munition für dicht besiedeltes Gebiet einsetzte. Bei einem Angriff auf einen Konvoi der Hilfsorganisation World Central Kitchen am 1. April 2024 fielen sieben Helfer einer israelischen Drohnenattacke zum Opfer – obwohl deren Fahrzeugkoordinaten vorher übermittelt worden waren. Die IDF entließ anschließend einen Oberst und einen Major und nannte die Tat einen »schweren Fehler aufgrund einer falschen Identifizierung«.

Die einzige Gefängnisstrafe erhielt dem Bericht zufolge ein Reservist für Folter im Gefangenenlager Sde Teiman – sieben Monate für das wiederholte Schlagen gefesselter Gefangener, denen die Augen verbunden waren, mit Fäusten, einem Schlagstock und seinem Sturmgewehr.

Besonders problematisch ist laut AOAV, dass selbst bei schwerwiegenden Vorfällen meist »keine Rechtsverletzung« festgestellt wird. So wurden drei israelische Geiseln, die weiße Fahnen schwenkten und Hebräisch sprachen, von eigenen Soldat*innen erschossen – ohne rechtliche Konsequenzen. Auch der Tod der fünfjährigen Hind Rajab, die in einem stundenlang von der IDF beschossenen Auto gefunden wurde und dabei mehrfach mit Helfer*innen telefoniert hatte, ist bislang ohne Aufklärung. In dem Fahrzeug fanden sich späterte Hunderte Einschusslöcher.

Das israelische Militär nannte auf Anfrage des »Guardian« andere Zahlen zu eingeleiteten Untersuchungen – nur eine geringe Zahl dieser Fälle bezieht sich aber auf Vorwürfe von Kriegsverbrechen in Kampfsituationen. Seit Kriegsbeginn seien 74 strafrechtliche Ermittlungen begonnen worden, davon 52 zu »Todesfällen und Misshandlung von Häftlingen« und 13 zu »Diebstahl von Feindesmunition«.

Die israelischen Ermittlungen würden »undurchsichtiger und langsamer«, je mehr zivile Opfer in Gaza zu beklagen seien, erklärt AOAV. Frühere Untersuchungen der israelischen Organisation Yesh Din zeigten laut der Organisation ähnliche Muster: Von 664 Beschwerden aus früheren Gaza-Konflikten wurden über 80 Prozent ohne Ermittlungen geschlossen, nur eine führte zu einer Anklage.

Am Mangel an Beweisen kann es nicht liegen – Videoaufnahmen, Augenzeugenberichte und glaubwürdige journalistische Recherchen seien reichlich vorhanden. Shawan Jabarin von der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Haq kritisierte deshalb anlässlich des neuen Berichts die systematische Straflosigkeit in Israel als das eigentliche Problem.

Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Dank der Unterstützung unserer Community können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen

Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.