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Nächste Eskalationsstufe
Netanjahus Polizeiminister fordert Schaffung eines Groß-Israels
Israels Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir hat am Sonntag in einem TV-Interview sein Kriegsziel erläutert: Die Schaffung eines Großisraels mit möglichst wenigen palästinensischen Staatsbürgern. »Wir müssen noch heute die Souveränität über den gesamten Gazastreifen erklären, diesen besetzen und die palästinensische Bevölkerung zur freiwilligen Ausreise ermutigen.« In der vergangenen Woche hatte das Parlament in Jerusalem in einer nicht bindenden Abstimmung bereits für den Anschluss des besetzten Westjordanlands gestimmt.
Als Ort für das Interview hatte der für die Polizei zuständige Ben Gvir den Tempelberg von Jerusalem gewählt, und als Zeitpunkt den jüdischen Fasten-und Trauertag Tischa Beav. Das von israelischen Sicherheitskräften streng bewachte, aber unter muslimischer Verwaltung stehende Gelände rund um den Felsendom und die Al-Aksa-Moschee war in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Ausgangspunkt blutiger Ausschreitungen. Juden dürfen sich an dem wohl umstrittensten Ort des Nahen Ostens zu bestimmten Zeiten aufhalten, aber nicht dort beten. Doch Ben Gvir betete demonstrativ zusammen mit jüdischen Siedlern im Garten neben der Moschee.
Seine Anhänger fordern den Wiederaufbau eines zweiten jüdischen Tempels und die Zerstörung der Al-Aksa-Moschee, die in der gesamten arabischen Welt zum Symbol des Widerstandes gegen die Besatzung Palästinas geworden ist. »Mit seiner Provokation setzt Ben Gvir ein klares Zeichen«, sagt Ori Goldberg, ein langjähriger Analyst der politischen Szene Israels. »Der Genozid in Gaza durch Aushungern und tägliche Bombardements wird nun durch die Zerstörung von allem ergänzt, was eine Zweistaatenlösung möglich macht.«
Während Israelis weiterhin täglich zusammen mit den Angehörigen der rund 50 noch in Gaza festgehaltenen Geiseln in Tel Aviv und Jerusalem gegen die Politik von Premier Benjamin Netanjahu auf die Straße gehen, setzt sich die Eskalation im Westjordanland fort. Ständig werden Dörfer bei Hebron, Bethlehem und Nablus von Siedlern angegriffen. Israelische Menschenrechtsorganisationen dokumentieren die Vertreibung palästinensischer Landbesitzer von ihren Feldern.
Auf einem Treffen der Siedlerbewegung in Jerusalem bezeichnete Finanzminister Bezalel Smotrich die besetzten Gebiete nun als untrennbaren Teil Israels. »Wir waren der Wiederbesiedlung Gazas niemals näher als jetzt«, so Smotrich. Im Parlament präsentierte er einen »Masterplan für die Besiedlung des Gazastreifens«, der den Bau von 850 000 Wohneinheiten, »Smart Cities« und eines U-Bahn-Netzes vorsieht. Michael Sfard, einer der prominentesten Menschenrechtsanwälte, warnt: »Der jetzt vor seiner Umsetzung stehende Plan erfüllt nach internationalem Recht den Tatbestand der ethnischen Säuberung.«
Nachdem die Hamas und der islamische Dschihad am Wochenende Aufnahmen von Evyatar David zeigten, herrscht auch bei Netanjahu-Kritikern Ratlosigkeit. Der am 7. Oktober 2023 von dem Gelände des Nova-Musikfestivals entführte Israeli ist in einem von Taschenlampfen beleuchteten staubigen Tunnel zu sehen. Schwer abgemagert schaufelt der 24-Jährige zusammen mit einer anderen Geisel ein Loch. Der Clip endet mit einer Botschaft der Entführer: »Nur ein Waffenstillstand bringt sie zurück.« Die Familie von Evyatar David fordert von der israelischen Regierung, Hilfsgüter wieder ungehindert in den Gazastreifen zu lassen. Nur so könnten dieser und der mit ihm festgehaltene Rom Braslavski ihre Gefangenschaft überleben.
Ihre eigene Forderung nach einem sofortigen Schweigen der Waffen und nach einem Ende des Krieges hat die Hamas mit einer ebenfalls am Wochenende veröffentlichten Erklärung verschärft. Sie werde die Waffen nur im Fall der Gründung eines palästinensischen Staates niederlegen, heißt es in dem Papier. Die Verhandlungen über eine 60-tägige Waffenruhe waren letzte Woche erfolglos beendet worden. Ben Gvir, Bezalel Smotrich und die bewaffneten Siedler haben ihre Anhänger dazu aufgerufen, das diplomatische Vakuum zu nutzen. In Zeitungsanzeigen werden bereits Baggerfahrer und Bauarbeiter für den Einsatz in Gaza gesucht.
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